Die Klinik
»Ich machte die Rundfahrt den ganzen Sommer mit, Manhattan Southampton – Le Havre, zwei Tage Pause, und dann denselben Weg retour. Es war ein elegantes Schiff, und ich sparte Geld, aber alles, was ich sah, war Wasser. Ich hatte viel zu große Angst, auch nur den Nachtzug nach Paris zu nehmen. Gerade um diese Jahreszeit blieb das Schiff zum Überholen eine Woche lang in Le Havre. Auf dem Schiff gab es einen Zahlmeister, einen Burschen, der Dusseault hieß. Seine Frau führte eine Boutique für Schmarotzer in Cannes, und er bot mir an, mitzufahren, wenn ich abwechselnd mit ihm den Peugeot lenkte. Die Fahrt dauerte dreißig Stunden. Während er es mit seiner Frau trieb, saß ich täglich am Strand und starrte in Bikinis. Eine französische Teenagerbande adoptierte mich gewissermaßen. Eines der Mädchen lehrte mich in drei Tagen schwimmen.«
»Haben Sie sie geliebt?« fragte sie nach einer Pause.
»Es war ein weißes Mädchen. Meine Erinnerungen an die Amsterdam Avenue waren noch zu deutlich. Damals hätte ich mir eher die Kehle aufgeschlitzt.«
»Und jetzt?«
»Jetzt?« Jahrelang war das kleine französische Mädchen eine Hauptfigur seiner sexuellen und sozialen Phantasien gewesen. Wiederholt hatte er sich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn er dortgeblieben wäre, sie wirklich kennengelernt, sie umworben, sie geheiratet hätte, ein Europäer geworden wäre. Manchmal hatte ihn der verlorene Traum in Sehnsucht und Bedauern erstarren lassen; meistens jedoch sagte er sich, daß es eine Katastrophe geworden wäre. Das liebliche junge Mädchen wäre wahrscheinlich zu einer zänkischen Frau herangewachsen, die Leute hätten mit der Zeit ihre Farbblindheit verloren, die Schlange hätte sich ihren Weg ins Paradiese geschlängelt.
»Jetzt… Ich meine, daß Sie zu viele Fragen stellen«, sagte er.
Er bat sie, mit ihm abendessen zu gehen, aber sie lehnte ab. »Meine Eltern erwarten mich.«
»Ich fahre Sie heim.«
»Es ist zu weit«, sagte sie, aber er bestand darauf. Sie lachte, als sie den VW-Bus sah. »Sie sind kein Musiker. Sie sind irgendein Lieferant.«
»Ein Band-Leader ist ein Lieferant. Man transportiert einen Baßspieler, ein paar Hörner, einen Sänger und einen Burschen, der ein ganzes Bündel von Trommeln schleppt.«
Sie schwieg.
»Was ist los?«
»Nichts«, sagte sie.
»Sie tun, als hätten Sie Angst.«
»Woher soll ich wissen, wer Sie sind?« platzte sie heraus. »Ein Mann, dem ich erlaubte, mich an einem öffentlichen Strand aufzulesen. Sie können ein Pusher sein. Sie können etwas viel Schlimmeres sein.«
Er lachte hell auf. »Ich bin ein Strandgutjäger«, sagte er.
»Ich werde Sie auf eine einsame Insel entführen und Ihnen Frangipani ins Haar flechten.« Fast hätte er ihr die Sache mit der Medizin erzählt, aber er unterhielt sich zu gut, und sein Heiterkeitsausbruch war so spontan, daß sie beruhigt war. Ihre Stimmung schlug um, sie wurde gesprächig, fast heiter. Es machte ihm Spaß, nur mit ihr beisammen zu sein, und bevor er es merkte, bog der Volkswagen auch schon bei einem Ort namens Natick von der Massachusetts-Autobahn ab. Das Haus war nur einige Minuten von der Mautstraße entfernt, ein peinlich sauberer Bungalow, mit verwitterten Schindeln verkleidet, in einer ansonst weißen Umgebung. Die Mutter war dünn und mager, mit scharfen Zügen, die auf eine längst vergessene weiße Vergewaltigung hindeuteten. Der Vater war ein brauner, stiller Mann, der aussah, als verbringe er seine freien Stunden damit, den Rasen zu maniküren, die Hecke zu stutzen, ängstlich vergleichende Blicke auf die nahegelegenen angelsächsischen und semitischen Rasen und Büsche zu werfen.
Die Eltern gaben ihm unsicher die Hand, waren jedoch aufrichtig erfreut, daß das Mädchen jemanden heimgebracht hatte. Es war ein Kind da, eine dreijährige Marion mit verfilztem schwarzem Haar und einer Milchkaffeehaut. Er entdeckte, daß er unwillkürlich von einem Gesicht zum anderen schaute und die sich wiederholenden Züge bemerkte.
Ihr Kind, sagte er sich.
Mrs. Williams besaß eine feine angeborene Wahrnehmungsgabe. »Wir nennen sie Midge«, sagte sie. »Die Tochter meiner Jüngsten, Janet.«
Sie führten ihn in die Laube hinter dem Haus, einem Platz im tiefen Schatten, nach Trauben duftend, aber voll Stechmücken. Während Spurgeon nach ihnen schlug, schenkte Mr. Williams Bier ein, bei dessen Herstellung er mitgeholfen hatte.
»Qualitätskontrolle. Vom Produkt Proben nehmen, während es durch die
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