Die Kluft: Roman (German Edition)
davongetragen.
Bald entstand eine Gemeinschaft junger männlicher Wesen; wie viele es waren, wissen wir nicht. Die Chronisten hielten es nicht mit der Genauigkeit. Die Zeit verging, und aus den ersten Ankömmlingen wurden starke junge Männer, die sich mit allen möglichen Fragen quälten, die die Schläuche und Beulen betrafen, mit denen sie ausgestattet waren. Ja, sie wussten inzwischen, dass der Schlauch dazu diente, Urin zu lassen.
Die männlichen Wesen hatten keine hohe Lebenserwartung, zumal sie immer wieder in den gefährlichen, reißenden Fluss steigen mussten und in dem Wald, der in der Nähe lag, wilde Tiere lebten. Wenn einer an einer Krankheit oder durch einen Unfall starb, wurde das von den Chronisten nicht genauer beschrieben; sie zeichneten allerdings auf, dass ein Todesfall eine Frage aufwarf … sie begriffen, dass sie sterblich waren, doch was sollten sie tun, um ihresgleichen zu ersetzen? Die Spalten besaßen die Fähigkeit des Gebärens, sie selbst aber nicht.
Was die Zapfen anging – der Ausdruck gefällt mir besser als Ungeheuer, denn er ist wenigstens richtig –, so machten sie sich allmählich Sorgen, ob die Adler weiterhin Säuglinge bringen würden. Angenommen, die Adler beschlossen, keine männlichen Kinder mehr über den Berg zu tragen? Als die Frage einmal aufgeworfen war, ließ sie sich nicht mehr beiseiteschieben. Dort drüben an der Küste, an die sich einige Jungen gut erinnern konnten, gebaren die Spalten Kinder. Ohne die Spalten würden die Adler in ihren Klauen nichts mehr bringen, keine Zapfen mehr.
Wie lange dauerte diese Zeit des Fragens und Zweifelns wohl an? Wir haben keine Vorstellung davon. In den Liedern der Männer der Frühzeit wurden gewissermaßen historische Vorgänge beschrieben. Sie sangen von ihrer Zeit bei den Spalten, wobei durchaus von Misshandlungen berichtet wurde. Manche Lieder erzählten von der Flucht vor Schmerz und Angst in jenes Tal, wo die Adler ihre Freunde waren, wo die Hirschkühe Milch gaben und in Fluss und Meer Fische lebten. Alle waren mutig und stark und gesund, und sie wurden immer mehr … doch sie wussten einfach nicht, wie man Leben gab.
Sie waren wild und rastlos, jene ersten männlichen Wesen, unsere Vorfahren aus ferner Vergangenheit, und es zog sie tief in den Wald. So lernten sie allmählich zumindest einen Teil ihrer Insel kennen, die groß war, auch wenn sie davon keinen Begriff hatten. Sie stießen auf riesige, luftige Wälder, tiefe, rasch fließende Flüsse und Nebenflüsse, auf kleine Bäche, liebliche Hügel, friedliche Ufer – all das fanden die Entdecker der Frühzeit vor. Sie lernten, wie sich die wilden Tiere verhielten und wie man ihnen aus dem Weg ging, und bald auch, wie man sie tötete, damit man etwas zu essen hatte. Die Hirsche, ihre Freunde, töteten sie nie, weil sie für Sanftmut und Güte standen und ihnen Nahrung boten. Die männlichen Wesen wussten, dass sie stärker und besser ernährt waren und viel mehr Bewegungsfreiheit besaßen als die Spalten, die ihren Küstenstrich nie verließen.
Ständig wurden sie von den Forderungen ihrer Männlichkeit gequält, ohne zu wissen, wonach sie sich eigentlich sehnten. Sie kannten alle Kniffe und Hilfsmittel zur Stillung geschlechtlichen Verlangens, auch die Nutzung eines bestimmten Tiers – aber keiner Hirschkuh, denn sie hätten es nicht über sich gebracht, ihre Milchspenderinnen zu benutzen, die im Grunde ihre Mütter waren. Für Mutter und Vater kannten sie allerdings keine Worte. Wie auch? Schließlich wussten sie nicht, dass sie Väter waren oder werden konnten. Und sie gehörten nicht zu den Hirschen, auch wenn sie die Tiere liebten. Ob sie das Wort Liebe kannten oder in diese Richtung dachten? Ich glaube nicht.
Sie dachten oft und mit zunehmender Dringlichkeit und Neugier an die Spalten, die lebten, wie sie immer gelebt hatten, und zwar ganz in der Nähe. Was für die kleinen Jungen eine gewaltige Entfernung gewesen war, war nun nicht mehr weit. Die Spalten gingen nie zu den Adlerbergen, denn so etwas fiel ihnen gar nicht ein. Sie waren nie auf die Idee gekommen, einfach dorthin zu gehen, hinaufzusteigen und nachzusehen, was sich auf der anderen Seite befand. Sie wussten nicht, dass auf der anderen Seite des Bergs jenes wunderbare Tal lag, in dem die Ungeheuer wohnten. Sie kamen gar nicht darauf, danach zu fragen. Aus den Augen, aus dem Sinn – nie hat es dafür ein besseres Beispiel gegeben.
Trotzdem waren sie inzwischen verunsichert, und sie
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