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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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das Verlangen der Jungen stärker als ihre Angst, also rannten sie los, packten sie rasch bei den Armen und eilten mit ihr zurück in das heimatliche Tal. Das Mädchen stieß kurze, wütende Laute aus, denn ihre Kehle war vor Schreck wie zugeschnürt. Sie war es nicht gewohnt, Angst zu haben oder in Panik zu geraten, und hatte wahrscheinlich nie zuvor geschrien oder gebrüllt. Der Schock machte sie gefügig. Sie war größer und viel fülliger, aber nicht stärker als vier robuste, muskulöse Jungen. Die zerrten sie weiter und stießen dabei triumphierende und zugleich ängstliche Schreie aus. Was sie da hatten, war eine Spalte, obwohl es doch jeden Anlass gab, die Spalten zu fürchten. Es war ein ziemlich weiter Weg von dem Strand, an dem sie sie gefunden hatten, entlang der Küste und dann über die felsigen Berge bis zu dem großen Fluss, der sich schäumend ins Meer ergoss. Von dort ging es flussaufwärts, immer im Laufschritt. Sie stieß mit ungeübter Stimme heisere Schreie aus. Die Jungen stopften ihr mit vollen Händen Seetang in den Mund.
    Erschöpft vom Rennen und halb erstickt durch den Tang, stöhnte und japste sie, bis sie endlich das Tal erreichten, in dem die männlichen Wesen lebten. Sie befanden sich auf der falschen Seite des Flusses. Also schwammen die Jungen mit ihr hindurch bis zu einer Stelle, wo die Wellen weniger heftig waren: Das fiel dem Mädchen nicht schwer, das von Geburt an schwimmen konnte und im Wasser gespielt hatte. Schließlich stand sie inmitten einer großen Gruppe von Ungeheuern, die sie zuletzt als kleine verstümmelte Kinder oder kurz nach ihrer Geburt gesehen hatte, bevor die Adler sie holten. Sie waren unterschiedlich groß, manche noch Kinder, manche schon über die mittleren Jahre hinaus, und die hatten die schwersten Verletzungen davongetragen, weil sie »Schoßtiere« gewesen waren. Alle waren sie nackt, und als das Mädchen sie sah, diese Ungeheuer, die ihre Zapfen auf sie gerichtet hatten, spuckte sie den Seetang aus und schrie, und diesmal kam ein richtiger Schrei, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Einer der Entführer stopfte ihr den Tang zurück in den Mund, und ein anderer fesselte ihr die Hände mit Tangfasern. Er tat es ungeschickt und langsam, denn hier wurden zum ersten Mal Hände gefesselt; Geiseln oder Gefangene hatte es nie zuvor gegeben.
    Instinkte, die frei und ungehindert und meist unerkannt gewaltet hatten, brachen nun alle auf einmal in den vielen männlichen Wesen hervor. Einer der Entführer warf das weiche, zappelnde weibliche Wesen nieder, und schon war sein Zapfen in ihr. Als er kurz darauf von ihr abließ, nahm ein anderer seinen Platz ein. Alle taten ihr Gewalt an und stillten ein Verlangen, das unstillbar schien. Junge Männer, die in den Wald gegangen waren, um Früchte zu suchen, kamen zurück, sahen, was vorging, begriffen sofort und nahmen ebenfalls teil. Schließlich hörte das Mädchen auf zu zappeln und um sich zu treten und zu klagen. Sie lag einfach still da, und nach einer Weile begriffen sie, dass sie tot war. Und nach einer weiteren Weile auch, dass sie sie umgebracht hatten. Daraufhin gingen sie auseinander, mit gesenktem Blick, weil sie sich schämten, ohne zu wissen, was das war, und ließen das Mädchen einfach liegen. Es folgte eine lange, angstvolle Nacht, und sie ekelten sich mittlerweile vor dem, was geschehen war. Fragen, die einige von ihnen jahrelang gequält hatten, waren nun durch die schlaffen Zapfen und ein Gefühl von Ruhe, Entspannung und Linderung beantwortet, aber sie hatten getötet, und sinnlos getötet hatten sie zuvor noch nie.
    Im Morgenlicht lag das Mädchen noch am Fluss im Gras – schmutzig, verschmiert, übel nach ihren Ausscheidungen riechend, und ihre weit aufgerissenen leeren Augen klagten sie an.
    Was sollten sie tun?
    Sie dorthin tragen, wo die Adler sie finden würden? Irgendetwas verbot ihnen, das zu tun.
    Schließlich trugen sie den steifen, besudelten Leichnam zum Flussufer, wo das Wasser schneller floss, schoben ihn hinein und sahen zu, wie er wirbelnd flussabwärts zum Meer getrieben wurde.
    Dies war der erste Mord, der von unseresgleichen begangen wurde (vom Aussetzen der verkrüppelten Kinder einmal abgesehen), und diese Tat lehrte sie, wozu sie fähig waren, sie lernten, was ihre Natur anrichten konnte.
    Der Mord wurde in ihrer Geschichtsschreibung nicht erwähnt, denn sie versuchten, ihn zu vergessen, und vergaßen ihn schließlich auch; genau wie die Spalten jeden Bericht

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