Die Kluft: Roman (German Edition)
hatten Angst. Sie wurden rasch weniger. Besonders zahlreich waren sie nie gewesen, dafür hatte ein innerer, instinktiver Regelmechanismus gesorgt. Zu Anfang waren einige Höhlen nicht mehr voll belegt, und bald darauf standen ein paar gänzlich leer. Nur ein halbes Dutzend Höhlen waren noch bewohnt, und allmählich verschwammen die alten Unterscheidungen, wer Fische fing oder Tang sammelte und so fort. Man bewachte und umhegte Säuglinge, die als Spalten geboren wurden, weil sie kostbar waren, während den Zapfen nach der Geburt eine noch stärkere Abneigung entgegenschlug, weil sie nicht als Spalten zur Welt gekommen waren.
Zwei Mädchen, junge Dinger, lagen auf einem der beliebtesten Felsen in der Brandung und sahen zu, wie ein gewisses Meerestier seinen Schlauch in ein anderes von derselben Art senkte und eine Wolke milchiger Eier ausstieß. Weil sie das Gefühl hatten, dass ihnen eine Offenbarung zuteil geworden war – vielleicht sogar vom Großen Fisch selbst –, gingen sie zu den Alten Weiblichen Wesen und erzählten ihnen, was sie gesehen hatten und nun für die Wahrheit hielten.
Doch diese warfen ihnen träge, gelassene Blicke aus Augen zu, die nie ein Gedanke getrübt hatte, auch wenn sie inzwischen die Sorge kannten, und wie sehr die jungen Spalten auch darauf beharrten, dass die Ungeheuer vielleicht einem Zweck dienten, die Alten ließen sich nicht überzeugen, wenn sie überhaupt vernommen hatten, was gesagt worden war.
Als das nächste Ungeheuer geboren wurde, nahmen die beiden es der Mutter weg, versteckten es vor den Adlern und untersuchten das hässliche Ding, das es zum Ungeheuer machte. Sie sahen, dass der Schlauch ganz ähnlich aussah wie der des Meerestiers. Wenn man daran rieb, wurde er steif, sonderte aber keine Eierwolke ab. Als der Kleine schrie, stieg ein Adler auf, der hinter einem Felsen gewartet hatte, schlug den Mädchen die großen Schwingen ins Gesicht, packte den Kleinen vorsichtig mit seinen Klauen und trug ihn fort. Doch Fragen und Zweifel blieben zurück.
So dachten beide Gruppen übereinander nach, auch wenn die Spalten nicht im Traum auf die Idee kamen, am Todesfelsen vorbei auf den Berg zu steigen und über ihn hinwegzugehen.
Was die jungen Männer anging, die ihren Teil der Insel jeden Tag weiter durchstreiften, so hielten sie sich aus Furcht vor den Spalten von den Felsen und Höhlen fern, aus denen sie entkommen waren. Doch manche stiegen hinauf in die Berge, wo die Adler wohnten, und starrten hinab zur Küste. Dort sahen sie auf dunklen Felsen zahllose kleine helle Kleckse: die Spalten, die wie üblich in der Brandung lagen. Doch die Jungen stiegen den Hang nicht hinab, sie hatten zu viel Angst.
Einige allerdings eilten tatsächlich an den Felshängen über der Küste entlang und wären auf die Spalten gestoßen, wenn sie gewollt hätten – aber sie wollten nicht, sie hielten immer dort inne, wo sie sich verstecken konnten und gleichzeitig nah genug bei den weiblichen Wesen waren, um zu sehen, was die gerade taten. Doch sie taten nicht viel, sie faulenzten nur und gähnten, schwammen ein bisschen und breiteten das lange Haar über den Schultern zum Trocknen aus, um anschließend wieder zu schwimmen.
[Das lange Haar habe ich erfunden und berufe mich dabei auf eine sehr viel spätere Erwähnung langer Haare. Vielleicht waren die frühesten Spalten glatt wie Seehunde, ließen sich dann aber lange Haare wachsen, weil sie einer Notwendigkeit gehorchten, die ihnen vermutlich kaum bewusst war. Der Historiker.]
Die Spalten verbrachten ganze Tage auf diese Weise mit Nichtstun – wie es die Jungen beobachtet hatten. Obwohl sie das Belauern bald satthatten, kamen sie hin und wieder zurück, denn irgendetwas zog sie unwiderstehlich an, ihr Verlangen war es, und eines Tages sahen sie eine junge Spalte, die ganz in der Nähe allein am Saum der Wellen spazieren ging. Sie blieb stehen, wandte ihren Beobachtern den Rücken zu, legte die Hände in den Nacken und starrte in die Wellen. Diese Beschreibung eines Mädchens, das allein – Spalten waren nicht gern allein – in aller Ruhe am Strand entlangschlenderte, weist darauf hin, dass sie zu den neuen Spalten gehörte, in denen bereits eine bestimmte Entwicklung gärte.
Die Jungen (oder Zapfen) waren an diesem Tag zu viert oben auf den Felsen unterwegs. Von einem Impuls getrieben, schlichen sie sich leise an das Mädchen heran, ohne zu wissen, was sie eigentlich vorhatten. Dann waren die Nähe des Mädchens und
Weitere Kostenlose Bücher