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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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vorsichtig, Julia.«
    Und vorsichtig war sie, denn sie ist noch am Leben.
    Und die beiden wunderbaren Kinder, von denen ich wahrhaftig sagen kann, dass sie das größte Geschenk meines Lebens gewesen sind?
    Das Mädchen, Lydia, ist mittlerweile oft bei ihrer Mutter. Natürlich bewundert sie die elegante, wunderschöne Frau, zu der Julia sich entwickelt hat. Lydia geht auf Feste, und zwar – könnte es schlimmer kommen? – mit ihrer Mutter. Sie verkündet, dass sie vorhat, eine gute Partie zu machen. Ihr Bruder Titus ist energiegeladen, tapfer, voller männlicher Eigenschaften, Leistungskraft, Belastbarkeit – was man sich bei einem römischen Jungen nur wünschen kann. Er will zum Militär. Vielleicht denkt er, dass er der Prätorianergarde beitreten kann. Warum auch nicht? Die ganze Garde besteht aus gut aussehenden jungen Männern wie ihm.
    Mir kommt in den Sinn, dass es über mich vielleicht irgendwann heißt: »Er gab drei seiner Söhne, die für das Imperium starben, er war ein echter Römer.« Wahrscheinlich wird sich dann niemand daran erinnern, dass ich mich einmal für einen ernsthaften Historiker gehalten habe.
     
    Die Zapfen standen herum und starrten sie an. Sie sah, dass ihre Schläuche auf sie gerichtet waren wie eine Frage, während alle vornübergeneigt auf sie schauten, sich aber zurückhielten, weil sie noch wussten, wie sie das andere Mädchen misshandelt hatten. Sie wollte fort; wollte tun, was ihrem Wesen entsprach, ins Wasser gleiten und sich darin verlieren. Obwohl sie wusste, dass ihr Tun die Jungen provozieren würde, stand sie auf und ging zum Flussufer, wo eine kleine Bucht mit flachem Wasser angelegt worden war. Sie kniete sich hinein und planschte, doch das Wasser war kalt und ganz anders als das laue Meerwasser, das sie gewohnt war. Als sie sich aus dem Wasser erhob und den Jungen zuwandte, die sich um sie scharten, sah sie einen der großen Muschelbehälter, die sie angefertigt hatten. Sie hob ihn auf und erfuhr, wie man ihn nannte. Die Jungen hatten aus scharfen Muscheln Messer gemacht – das Wort dafür lernte sie auch. Sie ließen nicht von ihr ab und sprachen Sätze und Wörter in ihrer kindlichen Sprache aus, worauf sie ihnen Antwort gab, und die Jungen sprachen ihr nach, aber nicht, um den Sinn zu erfassen, sondern wegen des Klangs.
    Mittlerweile hatten die beiden Adler ihre Mahlzeit beendet und waren mit ihren großen Schwingen zurück in die Berge geflogen. Die Sonne sank. Das Mädchen hatte Angst, allein an diesem fremden Ort mit diesen Fremden …
Menschen
war das Wort, mit dem die Spalten sich selbst bezeichneten, und auch diese hier mussten Menschen sein, weil doch jeder von einer Spalte geboren worden war. Vielleicht hatte sie selbst eins dieser starrenden Ungeheuer geboren … sie wusste, sie hatte ein Ungeheuer hervorgebracht, aber man hatte es ihr sofort weggenommen und zum Sterben ausgesetzt, und die großen Vögel hatten es mitgenommen.
    Aber sie starben nicht. Keins von ihnen war gestorben. Sie waren alle hier und sahen aus wie Spalten, abgesehen von den flachen Brüsten mit den nutzlosen Brustwarzen und den Bündeln aus Schläuchen und Bällen da vorn.
    Ein Schatten kroch von den Bergen her auf sie zu. Nun wurde die Angst des Mädchens größer. Noch immer scharten sich alle um sie, und ihre Not und das Verlangen nach ihr waren so offensichtlich, dass sie noch einmal einer Notwendigkeit in ihrem Inneren folgte, von der sie gar nichts wusste. Sie nahm einen steifen Schlauch nach dem anderen in die Hand, bis sie sich entleerten, und so, wie eine Notwendigkeit sie hergeführt hatte, musste sie nun wieder fort … sie musste fort, und als sie sich auf den Weg zum Berg machte, gingen ihr alle nach. Sie rannte nicht. Spalten rannten nun einmal nicht. Doch sie ging rasch, getrieben von Angst. Angst wovor? Vor den Ungeheuern, die ihr so dicht folgten? Vor der Nacht, die nun kam? Mit Einbruch der Dunkelheit erreichte sie den Fuß des Berges, und kein Mond war da, der die tiefe Dunkelheit erhellte. Sie fand eine Höhle und suchte darin Schutz. Sie konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, und alle waren sie neu. Als sie ganz früh im ersten Dämmerlicht die Höhle verließ, stellte sie fest, dass unten im Tal niemand zu sehen war. Alle waren in den Unterständen aus schimmerndem Flussschilf, die sie errichtet hatten.
    Nun stieg sie so schnell sie konnte den Berg hinauf zum Gipfel, jenes Mädchen, das in seinem Leben kaum mehr als ein paar

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