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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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interessieren, allerdings so, als hätte sie gar nichts mit ihr zu tun, als hätte ich gesagt: »Wusstest du, dass es in Britannien Stämme gibt, die sich blau anmalen?« »Nicht zu fassen!«, hätte sie daraufhin sagen können, während der Zweifel ihr Gesicht verdüsterte. Doch sie beschloss, mir zu glauben, weil sie ja wusste, dass ich die Wahrheit sagte: »Blau, ja? Das sieht sicher lustig aus.« Normalerweise wirkte sie offen und aufrichtig, und man sah an ihrem Lächeln, dass ihr die schöne neue Welt gefiel. Doch als sie bald darauf wie alle Frauen aus ihren Kreisen für ihre Unmoral und Genusssucht berüchtigt war, stellte ich mir vor, wie sie mit ihrem ehrlichen Gesicht und ihrem freundlichen allseitigen Interesse zuhörte, wenn eine Komplizin bei einer Orgie etwas empfahl, das sie unbedingt ausprobieren müsse, und daraufhin sagte: »Ach, wirklich? Das tut man jetzt, ja? Nicht zu fassen. Na, dann los.«
    Während Julia nie auch nur in die Nähe des Flügels mit den Kinderzimmern ging, war ich kaum davon fernzuhalten. Nichts hatte mich je so fasziniert, nicht einmal gewisse große Staatsaffären.
    Schon als die Kinder noch Säuglinge waren, entdeckte ich vieles, was mich erstaunte, und als sie drei, vier oder fünf wurden, war jeder Tag eine Offenbarung. Ich mischte mich nie in die Planungen der für die Kinder zuständigen Sklavinnen ein und machte mich nur bemerkbar, wenn ein kleines Wesen umarmt oder beachtet werden wollte. Ich hörte, wie ein Mädchen zum anderen sagte: »Sie haben zwar keine Mutter, aber der Großvater gleicht es aus.«
    Während mich täglich verblüffte, was ich beobachtete, erhielt ich jenen dicken Packen mit der Geschichte der Spalten und der Ungeheuer, der frühzeitlichen Geburt des Männlichen aus dem Weiblichen. Er wurde mir von einem Gelehrten übergeben, der schon öfter vorgeschlagen hatte, ich solle dieses oder jenes Thema in Angriff nehmen. Ich hatte bereits etwas veröffentlicht und damit Aufmerksamkeit erregt, doch nie unter meinem eigenen Namen, was manchen erstaunen mag. Doch dieses Unternehmen machte mir schlichtweg Angst. Allein das Material: uralte Schriftrollen oder deren Fragmente, einzelne, durcheinandergeworfene Fetzen, die in jenen alten Schriften beschrieben waren, in denen die frühe Geschichtsschreibung festhielt und transportierte, was zuvor von Mund zu Mund überliefert worden war. Es handelte sich um einen riesigen Packen, und wenn er überhaupt irgendwie geordnet war, dann nicht so, wie ich es getan hätte. Jedes Mal, wenn ich ihn mir vornahm, um zu überlegen, welchen Platz ich in der Geschichte einnahm, war ich bestürzt, und zwar nicht nur vom Ausmaß der Aufgabe, sondern auch, weil mir dieser Bericht so fern war, dass ich nicht wusste, wie ich ihn interpretieren sollte.
    Und dann beobachtete ich in der Kinderstube die folgende kleine Szene. Das Mädchen, Lydia, war ungefähr vier, und der Junge etwas jünger, vielleicht zwei. Lydia hatte die Beulen an ihrem Bruder Titus sicher schon hundert Mal betrachtet, doch an diesem Tag starrte sie ihn an und sagte: »Was hast du denn da?« Dieses Gesicht! Sie war neugierig, schockiert, neidisch, abgestoßen – starke, widersprüchliche Emotionen hatten sie gepackt. Ich sah zu, und die Sklavinnen auch. Wir wussten, dass dies ein bedeutsames Ereignis war.
    Titus schob daraufhin sein Bündel vor und fing an, mit dem Penis auf und ab zu wedeln, wobei er sie hochmütig ansah. »Das ist meins, das ist meins«, skandierte er und sagte: »Und was hast du? Du hast gar nichts.«
    Lydia stand da und blickte an ihrem glatten Bauch mit der kleinen rosa Spalte hinab. »Warum?«, wollte sie von den Kindermädchen wissen, von mir, von ihrem Bruder. »Warum hast du das und ich nicht?«
    »Das liegt daran, dass du ein Mädchen bist«, sagt der kleine Herr und Meister. »Ich bin ein Junge, und du bist ein Mädchen.«
    »Das finde ich hässlich, du bist abscheulich«, stellt sie fest, geht auf ihn zu und sagt: »Gib her.«
    Er dreht die Hüften, um ihrer forschenden Hand auszuweichen, und singt: »Kriegst du nicht, kriegst du nicht, ätschibätsch.«
    »Ich will anfassen«, forderte sie, worauf er ihr die Beulen hinhält, sie dann aber plötzlich zurückzieht, sobald ihre Hand sich nähert.
    »Dann zeig ich dir meins aber auch nicht«, sagt sie und dreht sich um, um alles zu verbergen.
    Woraufhin er singt: »Mir doch egal, ist mir doch egal, du bist vielleicht
albern

    »Ich bin
nicht
albern«, schreit sie beinahe und rennt zu

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