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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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den Mädchen hin.
    »Warum, warum, warum?«, fragt sie verzweifelt, als eine sie hochhebt.
    »Nicht weinen«, sagt das Kindermädchen. »Dann freut er sich nur.«
    »Das ist ungerecht«, schluchzt das Kind, und das andere Mädchen sagt: »Wenn du das hättest, wüsstest du gar nicht, was du damit anfangen sollst«, und zwinkert mir heftig zu und lacht. (Dabei bin ich nie so ein Hausherr gewesen: Vielleicht hätte sie sich das gewünscht.)
    Und in diesem Moment war mir klar, dass ich zumindest versuchen würde, mich jener Aufgabe anzunehmen und meine Geschichte der Vorzeit zu schreiben. Szenen, über die ich mir lange Gedanken gemacht hatte; aber wie sollte man nach Ewigkeiten überhaupt begreifen können, was es bedeutete, wenn weibliche und männliche Wesen unter Beobachtung der Adler zusammen in diesem Tal lebten, ohne zu wissen, warum Mädchen so geformt waren und Jungen anders, während wir Römer doch so viel darüber wissen?
    Sie müssen von starken Instinkten getrieben worden sein, wir wissen, wie stark sie sind, denn in dieser Hinsicht hat sich nichts geändert. Doch eines gibt mir immer wieder zu denken: Die Jungen verspürten offenbar ein Verlangen, wollten oder brauchten etwas, ohne zu wissen, was es war, nach dem ihre Zapfen verlangten, nur dass dadurch der ganze Mensch gezwungen wurde, etwas zu wollen, zu brauchen.
    Und die Mädchen? Organe, von denen sie nicht einmal wussten, dass sie sie besaßen, trieben sie über die Berge zu den Jungen hin, und selbst als ihnen klar geworden war, dass auf Vereinigungen später Geburten folgten, wussten sie nicht, warum. Zumindest wussten sie lange Zeit nichts davon.
    Es waren meine Beobachtungen im Kinderzimmer, die mich dazu veranlassten, trotz aller Schwierigkeiten diese Historie in Angriff zu nehmem. Ich bin mir sicher, dass sich im Austausch zwischen männlichen und weiblichen Wesen nicht besonders viel verändert hat, obwohl seither eine Ewigkeit vergangen ist (und noch eine und so weiter). Die Szene, die ich im Kinderzimmer sah, musste sich auch damals so oder ähnlich abgespielt haben.
    Und was ist zum Beispiel mit der Szene, die ich beobachtete, als der Junge Titus am Morgen mit einer Erektion aufwachte, langsam aufstand, sich an der Bettkante festhielt, nach unten sah und rief: »Meins! Das ist meins! Meins, meins, meins, meins …«
    Insofern hat sich wohl nicht viel getan. Doch wenn die Menschen von damals zurückkehren und uns sehen und feststellen würden, dass sich sehr wenig verändert hat, gäbe es trotzdem einiges, was ihnen unverständlich wäre.
    Mit den Schilderungen meiner Ehe, meiner Julia, meiner ersten und zweiten Familie würden sie nichts anfangen können. Der alte Senator und seine junge Frau? Nein. Warum nicht? Aus einem ganz einfachen Grund: Sie lebten nicht lange. Die Zeiten waren hart und gefährlich, und nicht einmal die »Alten Weiblichen« oder »Die Alten« konnten besonders alt gewesen sein. Was sehen wir vor uns, wenn wir hören: eine Alte? Eine grauhaarige, runzlige, gebückte alte Hexe. Doch in den Aufzeichnungen wird nirgendwo eine betagte Person beschrieben.
    Alle, die ich kenne oder von denen ich gehört habe, würden sofort verstehen: »Der alte Senator und seine ganz junge Frau.« Man lächelt vielleicht oder verzieht das Gesicht oder schaut missbilligend, weiß aber ganz genau, worum es geht. So machte ich mich also an diese Historie, an die vorliegende Historie, obwohl ich täglich in die Kinderzimmer ging und die Kinder beobachtete, während Julia unterwegs war, meist mit ihren neuen Freunden.
    Nie log sie mich an, außer durch Unterlassung. Es wurde gemunkelt, dass sie einen Liebhaber hatte, und sie gab mir Anlass zu glauben, dass es stimmte. Wozu brauchte ich nähere Informationen, wenn mir alles Material der römischen Geheimdienste zur Verfügung stand? Julia war mittlerweile intimes Mitglied der höchsten Kreise: Allnächtlich fanden Feste statt, die man nur Orgien nennen konnte. Sie war mit verrufenen Frauen und mit anderen Leuten befreundet, die verschwanden, als der nächste Imperator die Herrschaft übernahm.
    Wenn sie nach irgendeinem großen Fest dasaß und mich ansah, als erwartete sie einen Tadel, sagte ich durchaus zu ihr: »Julia, du willst zu hoch hinaus.« Dann erwartete ich, dass sie sich verteidigte, doch das tat sie nicht. Vielleicht machte sie sich selbst Sorgen. »Je höher du steigst, desto tiefer fällst du«, sagte ich und lächelte, damit sie mich nicht für voreingenommen hielt. »Sei

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