Die Kluft: Roman (German Edition)
Doch sie kannten nicht genug davon, sie wussten so wenig.
Ob sie wohl wiederkommen würde?
Mittlerweile brachten ihnen die Adler keine Kinder mehr. Der Grund dafür war, dass keine geboren wurden.
Astre gebar als Nächste. Es war ein Ungeheuer, und ohne darüber zu sprechen oder es zu planen, beschlossen sie und Maire, das Kleine selbst über den Berg zu tragen. Die Adler warteten wie immer auf dem Todesfelsen, doch Astre wickelte das neugeborene Kleine in Seetang, und Maire überließ ihr eigenes Neugeborenes, eine Spalte, der Obhut der anderen.
Die beiden Mädchen gingen auf den Berg zu, langsam, weil Astre vor Kurzem geboren hatte. Ein Adler, der dicht über ihren Köpfen flog und das Bündel in Astres Arm nicht aus den Augen ließ, begleitete sie. Die großen Schwingen waren immer dort, wo sie Schatten spendeten und sie vor der Sonne schützten. Ob das Absicht war? Es schien durchaus so, als wollte der Adler sie oder den Säugling beschützen. Als die beiden den Fuß des Berges erreicht hatten, setzten sie sich hin und rasteten, während Astre das Kind stillte. Es war das erste und letzte Mal, dass das Kleine die Milch seiner Mutter bekam. Der Adler ließ sich in der Nähe nieder, und als er seine Schwingen schloss und Federn über glatte Federn glitten, erreichte sie der Luftzug wie ein kühler Windstoß.
Sobald Astre nach der Rast zum Aufstieg bereit war, gingen sie zum Gipfel hinauf, wobei der Adler immer über ihnen schwebte. Oben angekommen legte Maire den Arm um Astre, denn sie wusste, wie erschreckend es war, das bevölkerte Tal zum ersten Mal zu sehen.
Es war nach Mittag. Die hohen, schrägen Schilfhütten warfen harte Schatten auf das Gras, wo die Jungen verschiedenen Beschäftigungen nachgingen. Als einer von ihnen die Mädchen sah, schrie er laut, und alle eilten zu einer Stelle, von der aus sie ihnen beim Abstieg zusehen konnten. Die Mädchen gingen immer weiter bergab, zwischen scharfen Felsen hindurch, und der Adler schwebte über ihnen.
Als sie ebenen Boden erreicht hatten, kamen alle Jungen auf sie zu, und ganz wie in Maires Erinnerung lag in ihren Blicken Verlangen und Not wie ein Flehen. Astre drückte das Kind fest an sich und versuchte, beim Weitergehen zu lächeln, obwohl sie zitterte und sich dicht bei Maire hielt. Sie war nun von den Ungeheuer-Jungen umgeben, die vorn diese knotigen Bündel hatten. Das Kleine fing in seiner Umhüllung aus Tang an zu weinen. Astre warf den Tang weg und hielt das Kind hoch, damit alle es sehen konnten. Sie und Maire hatten das Kleine hergebracht, doch nun, wo Astre Abschied von ihm nehmen sollte, fühlte sie sich allein und verlassen. Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas je empfunden zu haben, obwohl sie schon einmal ein Ungeheuer geboren hatte, das auf dem Felsen ausgesetzt worden war. Einer der Jungen, die nun vor ihr standen, konnte durchaus dieser verlassene Kleine sein. Als einer vortrat, um ihr das Kind abzunehmen, ließ Astre es los. Sie fing an zu weinen.
(Dieser Historiker gesteht Astre Tränen zu, obwohl dergleichen in keinem erhaltenen Dokument aufgezeichnet ist.)
Weil das Kind schrie, lief Milch aus ihrer Brust, die sie daraufhin mit den Armen schützte, weil sie zum ersten Mal das Bedürfnis empfand, sich zu bedecken.
Der Junge ging mit dem Säugling zum Waldrand und pfiff. Das Kleine schrie mittlerweile laut. Kurz darauf erschien eine Hirschkuh, die mit zuckendem Stummelschwanz zwischen den Bäumen stehen blieb und sie ansah. Der Junge ging mit dem Säugling auf sie zu und legte ihn auf dem Boden ab. Die Hirschkuh kam und legte sich neben das Kind. Sie leckte das Kleine ab, das seinerseits nicht wusste, was nun zu tun war. Als Astre sah, wie liebevoll die Hirschkuh war, weinte sie noch heftiger. Der Junge kniete vorsichtig neben Hirschkuh und Säugling nieder und schob das Gesicht des Kleinen näher an die Zitzen der Hirschkuh heran. Das Kleine schrie immer noch – und dann hörte es auf. Es nuckelte und die Hirschkuh leckte es beständig ab. Als sich die winzigen Händchen in das Fell der Hirschkuh krallten, sank Astre auf den großen Baumstamm und legte den Kopf in die Hände. Maire setzte sich zu ihr und hielt sie fest. Das Kleine nuckelte und ruderte vergnügt mit den Ärmchen, und auch die Hirschkuh schien sich zu freuen. Schließlich stand sie auf, ließ das Kleine liegen und fing an, in der Nähe zu grasen.
Der Junge, der das Kind versorgt hatte, setzte sich neben Astre auf den Stamm und nahm sie ungeschickt in
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