Die Kluft: Roman (German Edition)
blickten zur Küste hinab, wo ihresgleichen sich räkelten – sie selbst. Doch in ihren Augen (die bei mir blau sind, wegen des blauen Himmels und des blauen Meeres, das sie umgab), die einst so ruhig und gedankenlos geblickt hatten, gab es nun Schatten, genauer gesagt die Schatten der jungen Männer, die sie soeben verlassen hatten (und die vielleicht ihre Söhne waren, wer weiß?). Junge Männer, die ebenfalls Menschen waren, genau wie die Menschen, auf die sie herabblickten. Was sonst, wo doch die Ungeheuer von jenen Menschen dort geboren worden waren, aus jenen Körpern, die sich auf den Felsen räkelten.
Ungeheuer … so hatten die beiden einst gedacht, weil es nichts anderes zu denken gab.
Sie standen da und schauten und verglichen das, was sie sahen, mit der Lebhaftigkeit und Bewegung im Tal jenseits des Berges. Wie träge und ruhig es dort unten zuging. An einer Stelle kam es zu Bewegung und Lärm, der nach Protest klang. Das Kind, das Maire vor nicht allzu langer Zeit geboren hatte … und schon kam ein neuer Gedanke auf. Wie lange war es her, dass sie das Kind dort unten geboren hatte, das zwar eine Spalte, aber trotzdem zur Hälfte ein Ungeheuer war? Hatte je eine Notwendigkeit bestanden, die Zeit zu messen? Es ist so und so lange her, seinerzeit haben wir dies und jenes getan … als … schließlich kannten alle die Phasen des Mondes, der manchmal groß und rund und manchmal wie ein helles Stück von einem Fingernagel war, und alles dazwischen. Alle kannten den Zusammenhang zwischen der roten Flut, die dem roten Fluss durch die Spalte entsprach, wenn der Mond fett und hell und ganz nah war. Doch
wann
war dieses Kind geboren worden? Es gab eindeutig einen Zusammenhang zwischen diesem Zeitpunkt und etwas Entsprechendem bei den Ungeheuern (oder Menschen) dort drüben im Tal.
Alles war träge und schläfrig, nur ein Kind sorgte für Unruhe, Maires Kind, und beide konnten sehen, dass die Spalte, die das Kind hielt, verärgert und ungeduldig war. Kleine Kinder hatten sich nicht zu beklagen und zu zetern und Ärger zu machen und um sich zu schlagen. Wer benahm sich so, wer war voller Unruhe und Energie, wenn nicht ein Zapfen?
Die Betreuerin des Kindes saß auf einem Felsen dicht über den Wellen, und es wäre ein Leichtes gewesen, etwas so Kleines in die Wellen gleiten und verschwinden zu lassen. Wer würde schon etwas davon bemerken? Und wenn es jemand sah, würde jeder Rettungsversuch langsam und träge ausfallen. Träge und faul … und plötzlich verschaffte sich ein ganz neues Gefühl in den beiden weiblichen Wesen Raum, denn das waren sie, ob sie es wussten oder nicht und auch, wenn sie es gar nicht für nötig hielten, darüber nachzudenken. Es war Ekel. Nein, neu war der Ekel im Grunde nicht, denn Ekel empfand man beim Anblick eines neugeborenen Ungeheuers mit seinen hässlichen Körperteilen. Nein, der Ekel war nicht neu, doch ihn beim Anblick der Alten zu empfinden, der Alten Weiblichen – ja, das war neu.
Dicht vor den beiden Mädchen befand sich ein großer, flacher, bequemer Felsen, auf dem sich die betagten Spalten nach alter Gewohnheit räkelten. Dicke, wabbelige Spalten, von Fettschichten umhüllt – da lagen sie und streckten die Beine von sich, mit ihren feisten, vollen Spalten und dem hellen Haar, das auf rosigen Fleischrollen und -wülsten wuchs. Wie hässlich, oh, wie hässlich, dachten die Mädchen, die beim Anblick der Röhren und Ausbuchtungen kleiner Ungeheuer erschauert waren.
Und wie sie überhaupt aussahen … im selben Moment kamen den beiden Mädchen die Nacktschnecken aus dem Meer in den Sinn. Gerade waren im Meer welche zu sehen – als hätte von Häuten aus wässrigem Gallert umschlossenes Wasser feiste, wabbelige Formen gebildet, die eigentlich gar keine Formen waren, weil sie sich mit jeder Welle veränderten. Und in diesen Säcken aus durchsichtiger Haut konnte man undeutlich die Umrisse von Organen, von Schläuchen und von Klumpen aus etwas Beweglichem erkennen. Und jedes der riesigen, formlosen Wesen hatte zwei Äuglein, die genauso aussahen wie die winzigen Augen der alten Spalten, die im formlosen Fleisch ihrer Gesichter versanken, der alten Spalten, die ausgestreckt auf den warmen Felsen lagen und dösten, und den beiden Mädchen kam ein Gedanke in den Sinn, der vielleicht zum ersten Mal überhaupt gedacht wurde, in jener Vorzeit, vor Ewigkeiten: »Ich will nicht so sein wie sie« – jener Gedanke, der Revolutionen und Kriege angefacht, Familien
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