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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Jungen auf dem Stamm und sprachen ihnen langsam und deutlich Sätze vor, die leicht zu verstehen und zu wiederholen waren. Es war schon zu erkennen, dass sich zwei Sprachen entwickelten – eine, die die Neuankömmlinge lehrten, und eine hohe und kindische, denn so hatte die allererste Gemeinschaft der männlichen Wesen sprechen müssen. Sie sprachen wie Kinder, wie kleine Kinder sogar, und was sie einander sagen hörten, missfiel ihnen sehr. Maire und Astre mussten bleiben, um sie die Sprache zu lehren, um sie zu lehren, wie man die Unterstände sauber hielt und um sich mit ihnen zu vereinigen, wenn ihre Schläuche munter wurden und sich auf die Mädchen richteten.
    In den Aufzeichnungen wird um das ständige Kopulieren nicht viel Aufhebens gemacht, sondern eher darum, dass die jungen männlichen Wesen den Mädchen nahe sein wollten, sie stupsten und umarmten und sogar ableckten, wie die Hirschkuh die Säuglinge ableckte – denn so hatten sie Mutterliebe erlebt. Alle waren von einer freundlichen Hirschkuh gestupst und abgeleckt worden. Und keinen hatte je eine Mutter geliebt. Sie sehnten sich nach Berührung und Zärtlichkeit, und die Mädchen, an deren Küste man für diesen Ausdruck der Zuneigung nicht viel übrig hatte, waren überrascht und freuten sich.
    An diesen … ja, sagen wir: Liebesszenen nahmen jene allerersten Ungeheuer nicht teil, die von den Spalten schwer verletzt worden waren. Sie hatten Angst vor weiblichen Wesen und hielten sich von ihnen fern. Und die Mädchen hatten Angst vor ihnen, weil sie gewisse Empfindungen auslösten. Scham? Sie wussten nur: Die glühenden, düsteren Blicke jener geschädigten männlichen Wesen, die durchaus ihre eigenen Nachkommen sein konnten, gaben ihnen das Gefühl, krank zu sein.
    Und dann, eines Morgens, gingen die beiden Mädchen einfach fort. Derselbe innere Zwang, der sie hergeführt hatte, rief sie nun über den Berg hinweg zurück an ihre eigene Küste.
    Ihre Zeit der Empfängnis war gekommen und vorbeigegangen – obwohl sie davon natürlich keine Vorstellung hatten. Diese Einschränkung kommt in unseren Aufzeichnungen – in denen der männlichen Wesen – häufig vor, aber nicht in denen der Spalten. Doch wenn so etwas behauptet wird wie: »Davon wussten sie nichts«, »Sie waren sehr primitiv«, »Sie waren zu unwissend«, dieses ganze Spektrum abwertender Behauptungen, dann muss zumindest ich mich wundern. Wie können wir wissen, was sie wussten, und woher?
    All das liegt sehr lange zurück, ohne dass wir sagen könnten, wie lange genau. »Ewigkeiten« – das muss genügen. Vor Ewigkeiten haben jene Primitiven, unsere Vorfahren, deren Gedanken noch immer in uns leben – und wir besitzen ihre einst gesprochenen Gedanken nun in schriftlicher Form –, vor Ewigkeiten haben sie dieses und jenes getan, ohne je zu wissen, warum. So stellen wir uns das inzwischen am liebsten vor.
    Wir haben das Bedürfnis, Wesen, die anders sind als wir, für dumm oder zumindest gedankenlos zu halten.
    Die Mädchen gingen nicht unbemerkt fort. Die jungen Männer starrten ihnen nach, und wenn die Mädchen sich umgedreht hätten, hätten ihnen die sehnsuchtsvollen Gesichter alles gesagt.
    Schließlich eilten die jungen Männer auf den Gipfel des Berges hinauf und sahen zu, wie die Mädchen am Todesfelsen vorbei auf der anderen Seite hinabstiegen und danach ihre Küste erreichten.
    Sie waren fort!
    Wann würden sie wiederkommen?
Wann
, wann nur?
    Zwei junge Frauen standen oben auf einem Felsen, den sie erklommen hatten, um auf ihre Küste hinabzublicken … auf ihr Zuhause … auf ihresgleichen. Sie waren Spalten … ja, sicher, doch sie waren in jenem Tal bei einem Volk gewesen, das sie einst Ungeheuer genannt hatten, und beschäftigten sich höchstwahrscheinlich mit Gegensätzen wie ähnlich – unähnlich, dasselbe – das andere: mit lauter Unterschieden. Verstanden sie sich selbst als weiblich im Unterschied zu männlich? Junge weibliche Wesen. Sie waren nicht alt, sie waren keine Alten Weiblichen. Sie gehörten dem Volk an, auf das sie starrten, und das mussten sie einfach tun, weil sie sich nun einmal mit all diesen Unterschieden beschäftigten. Ohne männliche Wesen oder Ungeheuer, ohne Gegenteil gab es gar keinen Grund, darüber nachzudenken, dass sie Spalten waren. Mit dem ersten kleinen Ungeheuer waren auch Männlich und Weiblich zur Welt gekommen, denn davor waren sie einfach Menschen gewesen.
    Zwei junge weibliche Wesen standen auf ihrem Felsen und

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