Die Kluft: Roman (German Edition)
wie blind und mit unsicheren Schritten zu dem großen Baumstamm und setzte sich hin. Als Maire sich mit der Neuen zu ihm setzte, sah er immer wieder sie und dann das Kind an und hob schließlich die Hände, um sein Gesicht zu betasten. Er war atemlos vor Verwunderung – wie alle anderen auch.
Die drei bildeten eine Familie, wie wir sie kennen, doch was das für sie bedeutete, können wir nur erahnen. Als die Abendmahlzeit beendet war und sich die Dunkelheit über das Tal senkte, ging Maire mit dem jungen Mann und dem Kind zu einem Unterstand. Es war offensichtlich, dass zwischen ihnen eine tiefe Verbundenheit bestand, doch welcher Art? Was hatte das zu bedeuten?
Die Mädchen, die mitgekommen waren, um Astre und Maire zu helfen, unterhielten die jungen Männer, und alle sprachen über das große Geheimnis, dass eine Vereinigung das Gesicht des Kindes nach dem eines Erwachsenen prägen konnte.
Es versteht sich, dass man diesen Besuch im Tal, der zunächst mündlich überliefert und über den erst viel später etwas niedergeschrieben wurde, nie vergaß, und es wurde viel darüber gesprochen oder spekuliert, wie wir sagen würden: Die neuen Menschen, die ehemaligen Ungeheuer, verfügten über Kräfte, die die Spalten nicht besaßen. Ja, es war vorgekommen, dass eine kleine Spalte ihrer Mutter ähnelte – es gab in der ersten Gemeinschaft Mütter und Töchter –, doch inzwischen sahen sich die Menschen an der Küste jedes Gesicht genauer an.
In jenem frühen Stadium entschied sich keine der Spalten dafür, endgültig im Tal zu bleiben. Es gibt Hinweise, dass es dort sehr warm war und die Unterstände klein und unbequem waren. Die Höhlen hingehen waren groß und luftig, und die Meeresbrise kühlte sie.
Die Mädchen zogen in das Tal, wenn es an der Zeit war, und kehrten zurück in dem Wissen, dass sie gebären würden. Die Jungen warteten auf sie. Die Ungeheuer wurden von den Adlern zu den männlichen Wesen getragen, und weil sie nun nicht mehr von der Hirschkuh gefüttert wurden, holten die Jungen Spalten herbei. So ging es weiter – wie lange, wissen wir nicht. Und die Jungen klagten immer seltener darüber, dass ihre Zahl im Schwinden begriffen war, denn es kamen männliche Kinder zur Welt – was auch immer der Grund dafür war.
Aber wie lange? Wer weiß das heute noch?
Offenbar hat der Chronist ein Problem, das wieder mit der Zeit zu tun hat: allerdings mit einem viel längeren Zeitraum als dem bereits beklagten.
Wir Römer haben die Zeit gemessen, erfasst, von ihr Besitz ergriffen, um nie wieder sagen zu müssen: »Und seinerzeit kam es dazu, dass …«, weil uns Jahr, Monat und Tag zur Verfügung stehen. Wir sind ein Volk, das alles definiert, doch über jene Ereignisse wissen wir nur, was berufene
Gedächtnisse
darüber gesagt haben, jene, die alles, was vor langer Zeit für bewahrenswert erklärt worden war, wiederholten und denen weitersagten, die es wiederum weitersagen würden, und immer so weiter.
Jener Historiker hat nicht die Mittel, um festzustellen, in welchem Zeitraum sich die Geschichte der Spalten vollzog. Astre und Maire waren bei ihrer ersten Erwähnung junge Spalten wie alle anderen auch und verstanden sich erst dann als weibliche Wesen, als sie durch das Erscheinen der männlichen gezwungen waren, zu vergleichen und sich zu messen. Aber vor allem erscheinen sie in den Aufzeichnungen als Gestalten aus ferner Vergangenheit. Dass sie in den Erzählungen, männlichen wie weiblichen, eine so große Rolle spielten, weist wie die Tatsache, dass es Maire war, die die Neue gebar, darauf hin, dass ihre Worte gehört und schließlich aufgezeichnet wurden. Und bald waren sie nicht mehr einfach nur junge weibliche Wesen, sondern Gründerinnen von Familien, von Klans und Stämmen – und irgendwann, Ewigkeiten danach, wurden sie zu Göttinnen erhoben. Sie sind uns unter verschiedenen Namen bekannt, von denen man einen immer mit jenem Stern in Zusammenhang bringt, der für Liebe und weibliche Hexerei steht; ein anderer bezeichnet eine bestimmte Stellung des Mondes. Ihre Statuen stehen in jeder Stadt und in jedem Dorf, auf Lichtungen und Kreuzungen. Lächelnd und wohltätig, als eigenständige Königinnen sind Artemis, Diana und Venus und all die anderen höchst mächtige Vermittlerinnen zwischen uns und dem Himmel; wir lieben sie und wissen, dass sie uns lieben. Obwohl Reisende uns vielleicht erzählen, dass es nur einen kurzen Ritt oder ein paar Tageswanderungen von uns entfernt Göttinnen
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