Die Kluft: Roman (German Edition)
das richtige Wort, vielleicht sollte es »langsam« heißen. Was verursacht jene Veränderungen, durch die etwas Unmögliches nicht nur möglich, sondern unentbehrlich wird? Ich sage euch, wer über dieses Phänomen zu lange nachdenkt, wird von einer Unruhe befallen, die ihm den Schlaf raubt und ihn an sich selbst zweifeln lässt. Innerhalb meiner Lebenszeit sind Dinge, die unmöglich schienen, Allgemeingut geworden – einschließlich der Gründe, aus denen es dazu kam. Aber
warum
? Haben diese Menschen seinerzeit je gedacht: »Wir kannten das Feuer als Teil des Lebens im Wald, und jetzt gehorcht es uns – wie kam es dazu?« Darüber gibt es keinerlei Aufzeichnungen.
Inzwischen sind die jungen Männer im Tal noch immer beunruhigt, weil ihre Anzahl sinkt. Das Feuer, dieses große Geschenk, hat nicht zu ihrer Sicherheit beigetragen. Die großen Wälder bergen nach wie vor Gefahren: ein angriffslustiger Eber oder ein wütender Bär; eine Schlange, die keine Möglichkeit hat, nackten Füßen auszuweichen; ein Felsbrocken, der einen Hang hinabrollt; jemand, der mit Feuer nicht umgehen kann, legt eine Handvoll brennendes Gras auf eine unversehrte Stelle und rennt nicht schnell genug davon, um den springenden, lodernden Flammen zu entgehen; Pflanzengifte und Insektenstiche. Und der Fluss, der dort fließt, ist tief und reißt unvorsichtige Kinder ohne Weiteres mit.
Eine Aufzeichnung besagt, dass das Feuer Maire und Astre Anlass zu Zorn und Schelte gab. Ein Kleinkind stolperte in die Flammen: Man hatte es nicht rechtzeitig festgehalten. Als Maire zu Besuch kam, warf sie ihnen vor, sich widersprüchlich zu verhalten: Sie beklagten sich zwar, weil sie so wenige waren und die Adler ihnen so selten Säuglinge brachten, passten aber nicht auf die vorhandenen kleinen Kinder auf.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ausgeschimpft wurden.
Zu einem früheren Zeitpunkt war eine junge Hirschkuh an das Flussufer getreten, um zu trinken, und eins der Kleinen, die sie fütterte, war ihr nachgekrabbelt. Als die Hirschkuh trank und die Schnauze ins Wasser tauchte, eiferte das Kind ihr nach und tat, was die Mutter tat, denn das war sie – aber es beugte sich zu weit vor und fiel hinein.
»Warum stellt ihr niemanden ab, der eure Kinder beaufsichtigt, warum passt ihr nicht auf?«
In der Geschichtsschreibung der weiblichen Wesen ist aufgezeichnet, wie fassungslos sie waren: Sie konnten die Achtlosigkeit der Jungen einfach nicht verstehen, wenn sie gefährliche, leichtsinnige Dinge unternahmen.
Es gibt in den Aufzeichnungen der weiblichen Wesen Bemerkungen, dass die Jungen ungeschickt und unfähig waren, dass ihnen das Gefühl für ihre Umgebung fehlte und dass sie nicht verstanden, dass
jenes
folgte, wenn sie
dieses
taten.
Und währenddessen – wer weiß, wie lange? – bestand jederzeit eine weitere Gefahr, die schlimmer war als alle Gefahren des Waldes, des Flusses und des Feuers: die Feindseligkeit der Alten Weiblichen und jener Gruppe von Spalten, die sie unterstützten. Wir besitzen Aufzeichnungen über ein Ereignis, das alle Eigenschaften des Unwahrscheinlichen trägt, sodass es sich nur schwer mit allem anderen in Einklang bringen lässt.
Eine der Alten Weiblichen erklomm den Gipfel des Berges, um »sich selbst ein Bild zu machen«. Das ist der genaue Wortlaut, und wie viel er enthüllt! Hier hatte ein offenbar misstrauischer Geist von den Jüngeren allerhand darüber erfahren, was in dem Tal vorging, wo Ungeheuer heranwuchsen und gediehen. Sie hatte nicht geglaubt, was ihr erzählt worden war – so viel ist klar. Wir können uns heute nur schwer in jenen zögerlichen Geist der Alten hineinversetzen. Sie gehörte einer Spezies an, die Ewigkeiten an der Küste jenes warmen Meeres gelebt hatte, die nie von dort weggegangen und deren geistiger Horizont durch den Berg begrenzt war, der ihre Welt abschloss. Ja, sie hatte immer den Ozean und unruhige, bewegte Wellen vor sich gesehen, doch wie können wir uns einen Geist vorstellen, dessen Gedanken sich auf einen Streifen Felsenküste beschränken? Dieses Geschöpf hatte sein Leben lang nichts anderes getan, als von der Schlafhöhle zu den Felsen zu schlurfen, dort in der Sonne zu liegen und sich hin und wieder im Meer zu aalen – die Alte hatte sich in ihrem Leben kaum bewegt, und nun beschloss sie, auf den Berg zu steigen, »um sich selbst ein Bild zu machen«. War ein Tropfen von jenem Fieber, das einige junge weibliche Wesen für immer verändert hatte, auch für einen
Weitere Kostenlose Bücher