Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
gibt, die grausam und rachsüchtig sind.
    Wie lange dauerte es, bis Astre und Maire über sich hinauswuchsen? Wir haben keine Vorstellung davon.
    Doch eines ist sicher: Einst, vor sehr langer Zeit, gab es tatsächlich eine junge Frau, die möglicherweise Maire hieß, und dann weitere, die unser aller Urmütter waren und im Mutterleib jene Kinder trugen, die beides waren: Spalte und auch jenes Andere – die aus dem Stoff jener Menschen der Frühzeit waren, die dem Meer entstammten, wie man heute glaubt, und aus dem der neuen Menschen, die Ruhelosigkeit und Neugier mit sich brachten.
     

Die Mädchen, die in das Tal gegangen und schwanger zurückgekehrt waren, saßen in den Höhleneingängen und passten auf ihre Kinder auf, die ganz anders als andere waren. Sie konnten früh laufen und sprechen und mussten ständig beaufsichtigt werden. Die Mütter wussten, dass ihre Kinder ein zweifaches Erbe in sich trugen, und wenn sie auf den Rest des Stamms unten auf den Felsen hinabblickten, fiel ihnen auf, dass die Kinder der alten Art ruhig und friedlich waren, nur selten weinten und dort blieben, wo man sie hinsetzte; sie lebten nur auf, wenn man sie ins Wasser brachte, wo sie ohne jede Furcht herumschwammen.
    Wenn die neuen Mütter schwimmen wollten, gingen sie alle zusammen, nahmen die Kinder mit und suchten sich Becken aus, die die anderen nicht benutzten. Die Gemeinschaft der Spalten hatte sich geteilt, und der eine Teil beobachtete immer, was der andere gerade tat.
    Es geschah noch etwas, das in den alten Chroniken kaum Erwähnung findet. Man hielt es für selbstverständlich, und das heißt, dass es Feuer schon lange gegeben haben musste.
    Im Tal brannte ganz in der Nähe des Baumstamms immer ein Feuer, das von besonderen Aufsehern gehütet wurde. Bald brannten auch Feuer vor den Höhlen. Das Auftauchen dieser Feuer ist ein Grund, mögliche zeitliche Abfolgen infrage zu stellen, die bislang vorgeschlagen worden sind.
    Zunächst keinerlei Feuer, weder an der Küste noch im Tal – doch dann plötzlich überall. Das erste Feuer muss so erschreckend gewesen sein wie die neuen Säuglinge, die anscheinend aus dem Nichts gekommen waren.
    Warum plötzlich Feuer? Sie hatten gewiss über viele Generationen hinweg gesehen, wie der Blitz an Felskanten Funken schlug, die auf trockene Blätter fielen; gewiss war der Blitz in einen Flecken trockenen Grases eingeschlagen, worauf ein alter Baumstamm Feuer fing und vielleicht tagelang brannte. Wer zwischen den Bäumen umherging, war möglicherweise unversehens auf ein geschwärztes Stück aufgesprungener Erde mit den verkohlten Resten kleiner Tiere geraten. Vielleicht hatte jemand eine im Feuer gebratene Heuschrecke gesehen, sie gegessen und gedacht: Lecker. Ob sie auch eine gebratene Maus oder ein Vogelei gekostet hatten, das in einer Felshöhlung gegart worden war, als Flammen darüber hinwegfuhren? Und nicht ein einziges Mal hatte jene Person oder wer auch immer gedacht: Ich nehme ein Stück von dem brennenden Baumstamm mit zu unserer Wohnstatt, es wärmt uns in der Nacht und gart unser Essen.
    Doch dann drang plötzlich genau dieser Gedanke in ein frühzeitliches Bewusstsein oder in alle ein und brach sich Bahn – und bald brannte im Talgrund ein großes Feuer, vor den Höhlen brannten Feuer im Schutz großer Felsen, und die Menschen der Frühzeit hockten darum herum. Lange Zeit gab es gar kein Feuer, und plötzlich überall, und man röstete Nüsse und briet Eier und vielleicht auch die Vögel, die die Eier legten.
    Doch das geschah nicht bei jenen Menschen, den ersten männlichen Wesen, den Zapfen, obwohl dieser Name verschwand, genau wie der Name Ungeheuer. Es blieb die Erinnerung daran erhalten, dass es eine Hirschkuh gewesen war, die die ersten Ungeheuer-Kinder gefüttert und gewärmt hatte. Die Menschen gehörten zu den Adlern, gehörten zur Hirschkuh, und welches Fleisch auch immer auf den Feuern der Frühzeit garte, nie war es Adler oder Hirsch.
    Uns fällt es heute leicht, zurückzublicken und die jungen Männer der Frühzeit um ein großes Feuer sitzen und über jenes Geheimnis brüten zu sehen, das wir nicht lösen können, das Ewigkeiten bestand – Ewigkeiten, unendlich lang. Die Menschen der Frühzeit sahen Feuer, das in den Büschen tobte, an Bäumen emporschlug, aus Wolken herabfuhr, etwas, das ihnen vertraut war wie das Wasser im Fluss, ohne daran zu denken, dass sie es zähmen konnten – und plötzlich taten sie es doch. Vielleicht ist »plötzlich« nicht

Weitere Kostenlose Bücher