Die Kluft: Roman (German Edition)
meinen Jungen angriff, während er versuchte, sich davon zu befreien.
Er wurde schlank und drahtig in diesem Sommer, kein Kind mehr, sondern ein starker Junge, fast schon ein Mann.
Er weigerte sich, seine Schwester zu sehen, und war nicht zu Hause, wenn Julia kam und ihn besuchen wollte.
In diesem Sommer musste ich an meine Kindheit denken. Ich war einer von drei Brüdern und älter als das kleine Mädchen, das spät im Fortpflanzungsleben meiner Mutter zur Welt kam. Wir Jungen liebkosten das Mädchen, machten sie zu unserem Spielzeug und wollten nichts von ihr wissen, wenn sie bei unseren Spielen im Wege war. In jenem Sommer habe ich gesehen, wie schwer es ein Junge haben kann, der jünger ist als seine geliebte Schwester.
Ich versuchte, jederzeit ansprechbar für ihn zu sein, versuchte, ihm – ohne Worte – zu zeigen, was ich für ihn empfand. Das taten die Dienerinnen und Sklavinnen – die Frauen – auch. Weil er ein höflicher, gutherziger Junge war, wies er sie nicht zurück, wehrte sie nicht ab, aber er floh vor ihnen, und sein Gesicht war immer abgewandt.
Eines Nachmittags hatte ich einen kleinen Strauß Blumen gepflückt und ging durch einen Hain, in dem sich verschiedene Pfade kreuzten, auf unsere Artemis-Statue zu, als ich bemerkte, dass Titus hinter mir ging und sehen wollte, was ich tat. Als ich ihm ein Zeichen gab, nickte er, blieb aber hinter mir, und seine Schritte waren auf dem harten Boden des Spätsommers zu hören. Als ich ein Junge war, liebte ich (wie mein Vater zuvor) Diana, das jungenhafte Mädchen, in der ich eine Spielkameradin sah, die mich verstand. Ich brachte ihr kleine Geschenke und hoffte, dass ich ihr und ihren Mädchen eines Tages begegnen und dass sie mich dann erkennen würden. Später fand ich, dass sie zu jung für mich war, und liebte Artemis. Bei der Statue angekommen, bückte ich mich und legte ihr den kleinen Blumenstrauß zu Füßen. Ich hoffte, dass Titus mich sehen und begreifen würde, was ich empfand. Ich konnte nicht zu ihm sagen: Deine Mutter und deine Schwester sind nicht die einzigen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts.
Er stand dicht hinter mir und betrachtete mit mir zusammen die schöne Artemis. Ich sagte im Stillen zu ihm: Ganz gleich, wie schwer alles ist, wir können uns immer auf etwas verlassen, das sich nie verändern wird. Die lächelnde, wohltätige Artemis wird für immer und ewig hier sein. Unvorstellbar, dass sie irgendwann fehlt. Ich habe nie viel für Juno, Minerva oder Hera empfunden, denn sie sind mir fern. Aber auch sie werden immer in ihrem Himmel sein. Doch Artemis – ihr fühle ich mich so nah wie meiner Mutter oder meiner armen ersten Frau. Also, Titus, merk dir das: Sie ist hier, und sie wird immer hier sein, ihre Statue wird immer hier stehen und lächeln.
Das Leben am Fluss veränderte sich mit der Zeit. Irgendwann gab es Boote, die manchmal nur aus einem Baumstamm oder einem Bündel Schilf bestanden. Es gab Feierlichkeiten am Fluss, an denen alle weiblichen Wesen teilnahmen, und es wurde getanzt und gegessen. Feierlichkeiten, von denen man hätte sagen können: »Das war schon immer so«, sind in den allerfrühesten Tagen der Menschen nicht vorstellbar. Doch inzwischen gab es Feste, in denen das Feuer eine große Rolle spielte, die Zubereitung des Fleisches von Tieren, die im Wald erlegt worden waren – wir reden von einer Ewigkeit, von Ewigkeiten, die vorübergingen.
Mittlerweile kamen die jüngeren Menschen, männliche und weibliche, regelmäßig am Todesfelsen zusammen, dessen entsetzliche Geschichte längst in Vergessenheit geraten war, um dort Rennen, Ringkämpfe und allerhand akrobatische Übungen zu veranstalten. Jene weichen, fetten, trägen weiblichen Wesen der frühesten Zeit kann man sich beim Ringen oder auch nur beim Laufen nicht einmal vorstellen. Ich denke, man muss davon ausgehen, dass sich ihr Körperbau verändert hatte, dass die starken, muskulösen, von einer Fettschicht geschützten Körper der Mädchen, die schneller schwimmen als laufen konnten, schlank, geschmeidig und biegsam geworden waren.
Mittlerweile – und zwar nach einer
langen
Weile – forderten die kleinen Jungen lautstark, an dem Leben am Fluss teilhaben zu dürfen. Sie waren ganz anders als unsere verwöhnten Jungen, die immer von ihren Sklaven beaufsichtigt werden und vielleicht ein nachsichtiges Lächeln ernten, wenn sie Soldat spielen und als Miniaturlegionäre ihre Kräfte erproben. Diese Kinder kannten schon früh den
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