Die Kluft: Roman (German Edition)
Risiko.
Einige Ereignisse dieses Sommers bringen mich dazu, meinen Kommentar fortzusetzen.
Ich schicke dem, was ich zu sagen habe, zur Erinnerung voraus, dass die Spartaner ihre Jungen den Müttern im Alter von sieben Jahren weggenommen haben.
Titus und ich waren im Frühsommer auf unser Gut geritten und hatten erwartet, Julia und Lydia nicht vor Anfang des Herbstes wiederzusehen. Doch Julia schickte mir eine Nachricht, dass sie vorhabe, auf dem benachbarten Gut eine Hochzeitsfeier zu besuchen, und bei mir vorbeikommen werde. Der Bräutigam war Decimus, und Julia war seit Jahren seine Geliebte. Decimus machte eine gute Partie, Lavonia, ein Mädchen von hohem Rang. Decimus schickte ein Gefährt, das Julia zu der Hochzeit bringen sollte, und eines Nachmittags kamen nicht nur Julia, sondern auch Lydia in diesem hübschen, mit Girlanden und Bändern geschmückten Wagen angefahren. Die Frauen stiegen aus, und ich ging zu ihnen hin, um sie zu begrüßen. Als Titus sie sah, eilte er herbei, doch sobald Mutter und Schwester leibhaftig vor ihm standen, hielt er inne und runzelte die Stirn. Die Sonne schien ihm in die Augen, doch daran lag es nicht: Julia und Lydia gaben ein blendendes Paar ab. Julia trug ein rosenrotes Gewand und das junge Mädchen ein hellviolettes, das ihre Mutter für sie entworfen hatte. Was für eine attraktive Frau Julia war, und das Mädchen, ein sichtlich zartes, zerbrechliches kleines Ding, hob das noch hervor. Julia ihrerseits hatte einen gut aussehenden Jungen vor sich, der sie anstarrte. Sie begriff nicht sofort, dass er ihr Sohn war, denn sie hatte ihn seit ungefähr einem Jahr kaum gesehen. Zuerst wollte sie mit ihm flirten, ihm wegen seiner Vorzüge anerkennend zulächeln, doch dieser Impuls verpuffte, sobald sie seine Haltung bemerkte. Er hatte sich halb abgewandt, die Hände hingen herab, und sein Körper sagte, dass er im Begriff war, sich davonzumachen.
Neben seiner Mutter stand seine Schwester und lächelte. »Schau mich an! Schau mich doch an. Du hättest mich fast nicht erkannt, stimmt’s?« Die beiden waren immer gute Freunde gewesen, bis Lydia im Sommer zuvor beinahe über Nacht ein uraltes Erbe angetreten zu haben schien – das neu erworbene Wissen über Geschlechtliches, die instinktive Klarheit über sich selbst und das männliche Geschlecht. Durch ihr Lächeln zeigte sie ihrem Bruder keineswegs ihre Freundschaft, sie zeigte, dass sie erwachsen war und dass er dies anzuerkennen hatte. Gibt es einen größeren Abgrund als den zwischen einem dreizehnjährigen Jungen und seiner fünfzehnjährigen Schwester, die schon eine Frau ist? Mein Junge war erstarrt, als wäre das Lächeln der beiden Frauen eine vergiftete Pfeilspitze gewesen. Er konnte sich nicht rühren.
Inzwischen stand auch Julia reglos da. Dieser schöne Junge war ihr Sohn. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Schließlich trat sie einen Schritt auf ihn zu und zerwühlte sein Haar – mit ihrer schönen weißen Hand, an der die Ringe meiner ersten Frau und meiner Mutter schimmerten. Der Junge runzelte wieder die Stirn und trat einen Schritt zurück. Er war so groß wie sie. Seine Augen, die sich mit ihren wunderbaren dunklen Augen auf einer Höhe befanden, starrten streng, ernst – anklagend? Natürlich wehrte er sie und ihre alberne Zärtlichkeit ab. Ich glaube, sie empfand nun wie ich selbst viele Jahre zuvor, dass dies ihr Sohn war und dass sie all die Jahre verloren hatte, in denen sie ihm hätte nah sein können. Ich weiß es nicht: Sie hat es nie so gesagt, aber sie empfand mit Sicherheit Reue, als sie dort stand. Tränen traten ihr in die Augen. Inzwischen stampfte dicht hinter ihr das Pferd und warf den Kopf zurück: Die Zügel waren zu stramm. Ich gab dem Wagenlenker ein Zeichen, dass er sie lockern solle, und bemerkte, dass Julia im gleichen Moment das Unbehagen des Pferdes gesehen hatte und möglicherweise selbst Abhilfe schaffen wollte. Scham hatte sie überwältigt, eine umfassende Reue, während sie dort im heißen Sonnenlicht stand, die schöne Frau. Der Sklave, der den Sonnenschirm trug, hielt ihn gerade, doch die Sonne streifte Julias Wange.
Ich habe schon immer gesagt, dass sie ein gutes Herz hat, sie ist eine gütige Frau. Ich glaube, ihre derzeitigen Gefährten würden lachen, wenn sie mich so etwas sagen hörten. Sie kennen eine Frau, die in der Arena schreiend Beifall zollt, wenn Blut fließt, beim Todeskampf der Tiere und der Gladiatoren. Und doch hatte sie an diesem
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