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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Weg über die Berge. Sinnlos, dass Maire oder ihre Nachfolgerinnen sagten: »Das erlauben wir nicht.« Wie sollten sie ihre Verbote durchsetzen? Furchtlose kleine Jungen, teils noch Kleinkinder, fanden ihren Weg ins Tal, und die Frauen konnten sie schelten oder rügen, so viel sie wollten.
    Im Tal war alles einfacher geworden. Nun, wo es – wie wir folgern müssen – Spalten und Zapfen in gleicher Anzahl gab, waren die Jungen von jener ständigen Unruhe und Not befreit, deren Ursprung sie nicht verstanden hatten. Nicht, dass wir heute sagen könnten, was sie verstanden und was nicht. Was bedeutet heute das Wort »verstehen«? Natürlich kann man sagen: »Wir wissen, die Spalten kommen zu uns, und dann spielen wir unser Spiel, und später bekommen sie Kinder.« Ja, doch das ist weit von dem entfernt, was die Mädchen unserer Ansicht nach dachten. Sie wussten bestimmt, dass ohne die »Spiele«, die sie mit den Jungen spielten, keine Kinder kamen. In der Zeit des großen Winds, des Lärms, kam es beispielsweise selten zu Vereinigungen, und auch wenn es den Jungen nicht auffiel – die Spalten merkten bestimmt, dass keine Kinder kamen, obwohl aller Vernunft nach welche hätten kommen müssen. Ob sie von »neun Monaten« oder dergleichen sprachen? Wir wissen es nicht. Aber sie wussten, dass nach der Vereinigung eine gewisse Zeit verging, bis ein Kind kam, Mädchen oder Junge.
    Die Spalten klagten ständig über die Gefahren, denen die Jungen ausgesetzt waren, und besonders klagten sie über den großen Fluss. Den kleinen Jungen sollte es verboten sein, in die Nähe des Flusses zu gehen, sagten die Frauen.
    Ach, wie die Frauen dieses Flusstal hassten. Das geht klar und deutlich aus den Chroniken und Liedern jener Zeit hervor. Vor allem hassten sie den Fluss selbst, denn sie fanden, dass er gefährlich war, und zwar nicht nur für Säuglinge und kleine Kinder. Das Thema »Wir sind so wenige, wir sterben so rasch«, der Text eines Lieds, findet sich immer wieder. Viele waren im Fluss ums Leben gekommen.
    Er floss sehr schnell, er war tief, er war kalt, und wer darin baden wollte, musste sich, abgesehen von den stärksten jungen Männern, auf eine Bucht oder einen Arm beschränken, wo das Wasser flach war und träge dahinfloss. Jene Menschen, die am Meer geboren waren, die im Wasser gelebt hatten, für die das Wasser fast so etwas wie Luft gewesen war, etwas Gütiges, Sicheres, ihr Element, erlebten es jetzt als Feind. Weil die Spalten darauf bestanden, wurden am Flussufer Wachen aufgestellt, um die kleinen Kinder vom Wasser fernzuhalten. Die größeren Jungen erklärten sich dazu bereit. Sie gingen mit den kleinen Kindern genauso geschickt um wie die Frauen. Hatten sie nicht viele allein aufgezogen mithilfe der Adler? Hatten sie nicht den Hirschkühen beigebracht, die Kleinen zu füttern? Sie wussten durchaus, wie man auf kleine Kinder aufpasste, und doch beklagten sich die weiblichen Wesen, sie seien zu nachlässig, die Jungen seien vergesslich: Die älteren Jungen würden mit einem ganz kleinen Jungen, der das verlockende Wasser erreichen wollte, ein Spiel anfangen, und dann würde das Spiel sich ausweiten, weil andere kleine Jungen dazukamen, und dann würde man den ersten Kleinen vergessen oder sogar umwerfen, und er würde ins Wasser fallen. Die weiblichen Wesen ermahnten die Jungen und schärften ihnen ein, immer gut aufzupassen. Schließlich hielten am Ufer auch weibliche Wesen Wache: Sie konnten sich nicht darauf verlassen, dass die männlichen Wesen ihre Pflicht erfüllten.
    Die Spalten hielten die Jungen seinerzeit für geistig minderbemittelt: Sie glaubten, dass ihr Gedächtnis nicht normal funktionierte. Aus dieser Vorstellung entstand: »Sie werden normal geboren, aber später denken sie offenbar nur noch an ihre Zapfen.«
    Eins der Spiele, die die Jungen erfanden, gab Anlass zu einer heftigen Auseinandersetzung.
    Die abenteuerlustigeren Jungen, also nicht notwendigerweise die Älteren, entfernten sich von der sicheren Bucht und stürzten sich in die rasch fließenden Wellen des großen Flusses. Anschließend ließen sie sich treiben, bis sie eine bestimmte kleine Insel ein Stück flussabwärts erreichten. Dort stiegen sie aus dem Wasser, ruhten sich aus und mussten schließlich ein gefährliches Stück schwimmen, um das Ufer zu erreichen, und danach rannten sie zurück, sprangen ins flache Wasser, wo alle schwimmen konnten, und schließlich wieder in die kalten, reißenden Wellen. Wenn hier und da ein

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