Die Kluft: Roman (German Edition)
wenn man es dorthin mitgenommen hatte, weil es für die Mutter Zeit war, sich zu vereinigen. Die Kinder, Jungen und Mädchen, waren gern im Tal, doch manche wohnten lieber am Meer.
Sie wurden verhätschelt, behütet und waren kostbar, Jungen wie Mädchen.
Vor langer Zeit schon hatten die weiblichen Wesen ihre Fähigkeit verloren, durch einen Wind oder eine Welle befruchtet zu werden, die Fruchtbarkeit in sich trug – zur Befruchtung kam es nur noch durch die männlichen Wesen. Es dauerte einige Zeit, bis männliche wie weibliche Wesen das erkannten. Irgendwann musste es dazu gekommen sein, dass dieses Wissen sich durchsetzte, was vermutlich schmerzlich war: Denn die weiblichen Wesen waren somit auf die männlichen angewiesen, wenn sie Kinder bekommen wollten. Bedeutete dies nun, dass beide Teile verstanden, wie die Kinder in den Mutterleib kamen? Lebten die Vorstellungen von befruchtenden Winden und Wellen weiter im allgemeinen Bewusstsein fort, bis dann, ganz plötzlich, die Wahrheit bekannt war? Als die weiblichen Wesen nicht mehr über die Fähigkeit verfügten, von selbst schwanger zu werden, mussten sie auch ihren Glauben an sich selbst verloren haben, was mit Sicherheit schmerzlich gewesen ist. Ich bin geneigt zu glauben, dass sich diese Wahrheit bei beiden Parteien gleichzeitig durchsetzte, oder zumindest innerhalb eines überschaubaren Zeitraums. Schließlich war es seit Beginn dieser Aufzeichnungen (die vorgeblich für beide sprechen) ganz normal, dass man plötzlich etwas wusste oder verstand, als ökonomische Vorgehensweise der
Natur
. Plötzlich waren ein, zwei oder mehrere Individuen anders, dachten anders, folgten Impulsen, die ihnen neu waren. So kam es, wie mir scheint, ganz plötzlich zu dem Wissen, dass das (ehemalige) Ungeheuer-»Bündel« der männlichen Wesen Kinder in die weiblichen Wesen pflanzte. Plötzlich war die Wahrheit offensichtlich.
Parallel zu der ständigen Sorge und Beunruhigung um die geringe Zahl der Kinder und ihre Verwundbarkeit kamen in den Berichten – denen der weiblichen Wesen und den unseren – Klagen auf, weil die weiblichen Wesen ständig an den männlichen herumnörgelten. Die weiblichen Wesen fanden, dass den männlichen etwas fehlte, und möglicherweise müssen wir uns heute fragen, ob hier vielleicht eine tiefere Unzufriedenheit zum Ausdruck kam, weil die weiblichen Wesen in einem so grundsätzlichen Punkt abhängig von den männlichen waren.
Und währenddessen setzte sich ein älteres Muster fort – wir dürfen sagen, dass es vor dem Lärm entstanden war.
Alle Kinder wurden in den Höhlen über dem Meer geboren, und sie spielten in den Wellen und waren in Sicherheit. Die meisten weiblichen Wesen wohnten in den Höhlen, weil es ihnen im Tal nicht gefiel, und die meisten männlichen wohnten in ihrem Tal. Alle besuchten sich ständig. Die Mädchen gingen in das Tal, wenn es nötig war, und die männlichen Wesen hielten sich manchmal in den Höhlen auf. Die kleinen männlichen Wesen wurden nicht von den Männern aufgezogen, sondern zusammen mit den kleinen Mädchen. In den Höhlen mit den vielen kleinen Kindern, Jungen und Mädchen, sah es sicher ganz ähnlich aus wie bei unseren Kindern. Die Kinder, Mädchen wie Jungen, gingen oft in das Tal. Das Tal war ein wundersamer und erstaunlicher Ort für kleine Mädchen wie für kleine Jungen.
Die Frauen hatten es nicht gern, wenn die Kinder im Tal waren – und hier klingt eine weitere ständige Klage an. Der große Fluss hatte sich vom Lärm erholt und floss rasch und stark wie seit jeher, wodurch die Kinder einer Gefahr ausgesetzt waren. Die neu errichteten Hütten und Unterstände waren schmutzig und ungepflegt wie eh und je, und wenn das den Kindern gefiel, beklagten sich die Frauen und wollten, dass die Kinder bei ihnen an der Küste blieben. Doch das änderte sich, weil es Sitte wurde, dass kleine Jungen ihre Mütter und die Höhlen verließen und zu den Männern zogen, sobald sie ungefähr sieben waren. In einer Sprache, die uns heute nicht fremd ist, bezeichneten die Jungen die Höhlen, die Küste und ihre Mütter als weich und kindisch. Der große Fluss und seine Gefahren hingegen galten als Herausforderung und wünschenswert für die Entwicklung der Jungen. Bald mussten alle Jungen die Höhlen verlassen und lernen, die Gefahren der kalten, tiefen, tödlichen Flussströmung zu bestehen. Wenn dabei der eine oder andere ums Leben kam, hielten die männlichen Wesen das anscheinend für ein vertretbares
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