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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Nachmittag Mitleid mit einem misshandelten Pferd.
    Sie war ein solches Bild der Verwundbarkeit – der Hilflosigkeit? –, dass ich aus einem Impuls heraus etwas sagte, das ich ihr unter vier Augen hatte sagen wollen.
    Ich fand, dass es ein Fehler gewesen war, die Einladung zu dieser Hochzeit anzunehmen, zumal der Bräutigam so großen Wert darauf gelegt hatte, ihr dieses höchst elegante kleine Gefährt zu schicken. Julia würde auf dieser Hochzeit strahlen, ganz gleich, wie viele andere hübsche Frauen anwesend waren. Ich ging zu ihr hin, nahm sie in den Arm und flüsterte in ihr Ohr, das unter einer jener ungeheuer komplizierten Frisuren, die gerade in Mode sind, eben noch zu sehen war. »Sei vorsichtig, kleines Rebhuhn, sei vorsichtig, Julia.«
    Lydia hörte meine Worte. Ich glaube nicht, dass eins der Kinder besonders viele zärtliche Augenblicke zwischen uns Eltern erlebt hat. Daraufhin sank Julia in meine Umarmung (allerdings mehr wie eine Tochter als wie eine Ehefrau), wobei sie darauf achtete, ihre komplizierte Lockenpracht nicht zu zerstören, und flüsterte: »Danke, mein Lieber, ich danke dir – immer.« Die Augen ihrer Tochter blitzten – Eifersucht, jenes Urgefühl, Eifersucht zwischen Mutter und Tochter. Lydia streckte sogar die Hand aus, als wollte sie ihre Mutter von mir wegreißen, ließ sie dann aber sinken. Und währenddessen stand der Junge da und starrte uns an. Wenn wir unter uns gewesen wären, hätte ich nun gesagt: »Es kommt durchaus vor, Julia, dass eine junge Ehefrau ihre Vorgängerin bestraft oder sogar umbringen will.« Doch ich konnte sehen, dass Julia angestrengt überlegte, als sie mich mit Bedacht losließ und ihre wallenden schwarzen Locken richtete.
    (Zufällig ist Lavonia, die junge Ehefrau, im Frühling des nächsten Jahres im Kindbett gestorben.)
    Als Julia in den Wagen stieg, liefen ihr Tränen über die rosigen Wangen, und Lydia, die offenbar das Gefühl hatte, sich noch nicht ausreichend bemerkbar gemacht zu haben, kam, um mich zu umarmen. Es war nichts Falsches daran, denn wir waren immer gut miteinander ausgekommen, die kleine Lydia und ich, nur dass es an diesem Nachmittag keine kleine Lydia gab, denn es handelte sich um eine schöne junge Frau, die für einen Moment wieder zum Kind geworden war. Dann ging sie so, wie sie noch vor ein paar Monaten gewesen war, auf ihren Bruder zu, nicht kokett oder flirtend, sondern mit den Blicken einer Freundin, einer geliebten Schwester. Doch Titus hatte sich von ihr abgewandt. Derart verschmäht, warf Lydia den Kopf zurück und wollte schon schmollen, stieg aber dann ihrerseits in den Wagen, und die beiden Frauen fuhren davon zum Nachbargut. Es war nicht weit: Sie hätten ohne Weiteres zu Fuß gehen können.
    Und ich stand da an diesem wunderbaren Nachmittag, während über mir die Adler kreisten und Spatzen im nahe gelegenen Busch zwitscherten.
    Der Junge wandte sich in einem heftigen Fluchtimpuls von den Frauen ab, machte einen, noch einen, mehrere Sätze und rannte über die Felder davon, die schon von der Sonne verdorrt waren. Das ist jener Sommer in meiner Erinnerung – der Junge in Bewegung, auf der Flucht, allein oder mit den Hirtenjungen oder den Söhnen der Haussklavinnen. Sie hatten schon immer miteinander gespielt, doch was ich sah, war kein Spiel.
    Die Haussklavinnen liebten Titus; sie kannten ihn natürlich schon sein ganzes Leben und waren so etwas wie Ersatzmütter für ihn. Einige hatten die kleine Szene bei der Kutsche gesehen. Sie wussten, was das zu bedeuten hatte – Sklaven und Bedienstete wissen viel mehr über uns, als uns lieb ist. Sie wollten dem Jungen die achtlose Mutter ersetzen, doch Zärtlichkeit war damals nicht das, was er brauchte. Wenn ich ihn bei seinen anstrengenden Unternehmungen beobachtete: wie er gefährlich hoch hinauf in die Berge stieg, wo die Adler nisteten, mit den anderen Jungen um die Wette kletterte, weit oben in den Bäumen, die so hoch waren, dass ich kaum hinsehen konnte, die Saltos, die akrobatischen Übungen und Wettkämpfe, die sie sich ausdachten, dann hatte ich das Gefühl, dass er vor etwas davonlaufen, dass er sich befreien wollte. Es erinnerte mich daran, wie einmal Sklaven in den Sumpf geschickt worden waren, um Fisch zu holen, während die Mücken auf Nahrungssuche waren. Die Sklaven tanzten und hüpften in einer dichten Wolke Insekten herum und schlugen sich auf Köpfe, Arme und Beine.
    Man konnte sich vorstellen, dass eine unsichtbare pappige, klebrige Substanz

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