Die Knoblauchrevolte
Landkreis Paradies, führte auf der Knabentoilette das große Wort. Es war Sommer 1960. Wang Tai stammte aus einer armen Bauernfamilie. Sein Vater war der Leiter der zweiten Produktionsbrigade des Dorfes Hohe Spur.
Sie hatten gerade Pause. Wie ein Bienenschwarm kamen die Schülerinnen und Schüler in der Pause herausgeströmt, vermischten sich zu einer wimmelnden Masse und teilten sich auf dem Sportplatz wieder in zwei Scharen, die Jungen im Osten, die Mädchen im Westen. Der Sportplatz war mit Unkraut überwuchert. Auf dem Basketball-Korbbrett wuchsen Pilze. Der Korbring war verrostet. Am Ostende des Sportplatzes hatte man einen Pfahl in den Boden gerammt und einen weißen Ziegenbock mit strähnigem Bart daran angebunden. Der Ziegenbock beobachtete die Kinder, die alle so mager wie Affen waren, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Toiletten befanden sich am Südende des Sportplatzes, zwei große Räume ohne Dach. Der östliche war für die Jungen, der westliche für die Mädchen. Zwischen Knaben- und Mädchentoilette stand eine aus Bruchziegeln gemauerte Wand. Diese Mauer war nicht hoch. Soweit Gao Yang sich erinnern konnte, überragte ihn die Mauer ein ganzes Stück. Aber Wang Tai, der älteste und größte Schüler der Klasse, war so groß, wie die Wand hoch war. Wenn er sich auf zwei aufeinandergelegte Ziegel stellte, konnte er sehen, was hinter der Mauer passierte. Gao Yang erinnerte sich daran, daß Wang Tai drei Ziegel aufeinandergeschichtet hatte und über die Mauer in die Mädchentoilette schaute. Gao Yang wußte noch, wie die Knabentoilette aussah.
In der Mitte befand sich eine aus Ziegeln gemauerte viereckige Grube. Die Schüler standen an den vier Seiten des Rechtecks und pinkelten hinein. Hinter diesen Stehplätzen gab es viel freien Raum. Sie nannten diesen leeren Platz den Stallrand. Der innere Zirkel des Stallrandes war von den Füßen der Schüler glatt poliert, an der Außenkante des Stallrandes wuchsen dunkelgrünes Rispengras, rotknospige Melde und gelbblühender Pferdezahnportulak.
»Achtung, noch nicht pinkeln, haltet es zurück, wir wollen sehen, wer es schafft, sich selber in den Mund zu pinkeln«, sagte Wang Tai vom Stallrand aus.
Die kleinen Schüler der unteren Klassen schafften es nicht, sich in den inneren Kreis zu drängen, also pinkelten sie geräuschvoll in das Unkraut an der Außenseite.
»Wer macht den Anfang?« fragte Wang Tai. »Versuch du es mal, Gao Yang.«
Gao Yang und Wang Tai kamen aus der gleichen Produktionsbrigade. Wang Tais Vater war der Leiter der Produktionsbrigade, während Gao Yangs Vater, ein ehemaliger Grundbesitzer, als schlechtes Element galt, das unter der Aufsicht armer Kleinbauern arbeiten mußte.
»Also gut«, sagte Gao Yang hocherfreut.
Er erinnerte sich noch ganz genau, wie er vor siebenundzwanzig Jahren sein eigenes Pipi getrunken hatte.
Damals war ich gerade dreizehn Jahre alt. Zu Hause hatten wir wenig zu essen und nichts anzuziehen, trotzdem hat sich die Familie meinen Schulbesuch vom Munde abgespart und mich bis zur sechsten Klasse auf die Schule geschickt. Mein Vater war ein ehemaliger Grundbesitzer, meine Mutter die Frau eines Grundbesitzers. Bei einer solchen Herkunft hatte man selbst bei größter Begabung keine Zukunft. Für mich gab es nur eine Marschrichtung: direkt in die zweite Produktionsbrigade, um in Hohe Spur unter der Führung von Wang Tais Vater zu arbeiten, und zwar schon bald. Die Aufnahmeprüfung für die Oberschule hätte ich selbst dann nicht bestanden, wenn ich in allen Fächern eine Eins gehabt hätte, und davon konnte sowieso nicht die Rede sein. Als Wang Tai mir vorschlug, mein Pipi zu trinken, war ich ganz begeistert. Damals war ich immer sehr froh, wenn mir jemand Beachtung schenkte, ganz egal, was für eine Art von Beachtung das war.
Ich sagte, ich probier es. Ich dachte, vielleicht schaffe ich es, mir selber in den Mund zu pinkeln. Ich richtete meinen steifen kleinen Hahn nach oben und schoß mit aller Kraft ab. Die heiße gelbe Wassersäule spritzte fast senkrecht nach oben, hoch über meinen Kopf. Ich streckte den Kopf vor und konnte einen Mundvoll auffangen, schluckte ihn runter, bekam noch einen Mundvoll und schluckte wieder.
Wang Tai lachte laut und fragte: »Wie schmeckt es, wie schmeckt es?«
Ich spürte den Geschmack auf der Zunge. »Es schmeckt wie Tee«, log ich.
»Wer schafft es noch, sich selber in den Mund zu pinkeln, wer versucht es als nächster?« fragte Wang Tai.
Keiner hatte Lust.
Ein paar
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