Die Knoblauchrevolte
Schüler der Unterklassen liefen auf den Sportplatz und riefen: »Kommt her und schaut, die sechste Klasse macht einen Wettbewerb im Pipitrinken.«
Wang Tai forderte einen Mitschüler auf: »Li Shuanzhu, geh hin und verprügel die Konkubinenkinder.«
Dann senkte er die Stimme und fragte: »He, Kerle, wißt ihr, wie die Mädchen pinkeln?«
Alle verneinten.
Wang Tai spreizte die Beine, hockte sich halb auf den Boden und machte mit dem Mund ein zischendes Geräusch. »So. So pinkeln sie.«
Die Jungen kreischten laut.
Wang Tai forderte sie auf, sich an der Westseite der Grube aufzustellen, mit dem Gesicht zur Mauer.
»Jetzt machen wir einen Wettkampf um die Höhe. Wer am höchsten pinkeln kann, der bekommt von mir einen Preis.«
Mehr als zehn Schüler stellten sich in eine Reihe, Wang Tai an der Spitze. Alle strengten sich an. Mehr als zehn Urinsäulen – gelbe und weiße, trübe und klare – schossen in die Höhe. Einige trafen die Trennmauer zur Mädchentoilette, zwei spritzten sogar darüber hinweg. Der stärkste Urinstrahl kam von Wang Tai. Das konnte Gao Yang ganz genau erkennen.
In der Mädchentoilette ertönte ein spitzer Schrei. Danach ärgerliches Schimpfen.
Ich hätte nie geglaubt, daß Wang Tai die Schuld dafür auf mich abwälzen würde.
Der Direktor schleppte mich ins Büro, gab mir in Gegenwart der Lehrer eine kräftige Ohrfeige und schimpfte mich aus.
»Wenn der Vater ein Held ist, ist der Sohn auch ein anständiger Mensch, und wenn der Vater ein Reaktionär ist, dann wird aus dem Sohn auch nichts Rechtes«, verkündete er.
Dann wandte er sich an einen der jungen Lehrer. »Liu Yaohua, lauf ins Dorf und hol Wang Tais Vater und Gao Yangs Vater. Ich muß mit ihnen sprechen.«
Ich weinte, denn ich hatte Angst, daß mein Vater durch mich wieder in Schwierigkeiten geraten würde.
Der alte Häftling hob den Kloß aus der Urinpfütze heraus, nahm ihn in beide Hände und preßte mit aller Kraft. Der Kloß quietschte. Zwischen den gekrümmten, schmutzigen Fingern des Alten trat eine klebrige Flüssigkeit aus. Der Alte wischte sich die Hände an seiner Hose ab, riß den Kloß auf und begann zu essen.
»Kumpel, er ißt ihn. Jetzt bist du dran. Es ist deine eigene Pisse, es kann dir also nicht schaden.« Der Mann mittleren Alters sagte das mit widerwärtigem Grinsen. Er hatte seine Stimme gesenkt, damit ihn die Wärter nicht hören konnten.
Wütend starrte Gao Yang den Mann an, der ein Mörder sein wollte. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er das Gefühl, daß er selber ein vollwertiger Mensch war. Du – ein Mörder, du – ein Dieb und du – ein alter Lustgreis. Als meine Klassenkameraden von den armen Kleinbauern mir vorschlugen, mein Pipi zu trinken, da habe ich es getan, und als die Roten Garden mir befahlen, Pipi zu trinken, da habe ich es auch getan, aber von euch Verbrechern lasse ich mir nichts sagen. Zornig stieß er hervor: »Ich trinke das nicht.«
»Wirklich nicht?« fragte der Mann mittleren Alters lächelnd.
»Ich trinke nicht«, erklärte Gao Yang. Als er sah, wie sich der alte Häftling den urindurchtränkten Kloß schmecken ließ, stieg ihm der Brechreiz in die Kehle.
»Trink, Kumpel«, sagte der junge Häftling. »Ich würde es nicht wagen, ihm zu widersprechen.«
»Wenn ein Beamter mich zwingen will, kann ich nichts machen, aber euch bin ich nichts schuldig.«
»Du schuldest uns nichts«, pflichtete ihm der Junge bei, »aber wir haben hier unsere eigenen Regeln.«
»Trink doch«, redete der Alte ihm zu, »wir alle müssen lernen, Unrecht zu ertragen. Hast du nicht gesehen, wie ich deine Pisse geschluckt habe?«
Der Mann mittleren Alters sagte pathetisch: »Kumpel, ich bin kein Tyrann, ich will nur dein Bestes.«
Gao Yang zögerte, tief berührt von der scheinbaren Aufrichtigkeit des Mörders.
»Trink, lieber Bruder«, gurgelte der Alte, dem noch ein Stück Kloß in der Kehle steckte.
»Trink, lieber älterer Bruder«, bat der Junge mit Tränen in den Augen.
Gao Yang fühlte ein Stechen in der Nase. Ihm war nach Weinen zumute, und als er die drei Mitgefangenen ansah, kamen sie ihm vor wie Familienangehörige, die ihn überreden wollten, eine bittere Medizin einzunehmen.
»Ich trinke, ich trinke.« Gao Yangs Kehle wurde eng, er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
»Recht so, das wollte ich hören.« Der Mann mittleren Alters klopfte ihm leicht auf die Schulter.
Gao Yang kniete sich langsam auf den Betonboden, mitten in die Pfütze, deren Urheber er war. Der Urin
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