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Die Knoblauchrevolte

Die Knoblauchrevolte

Titel: Die Knoblauchrevolte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Vorstellung, daß Gao Ma fortging und niemals wiederkommen werde. Sie wußte, daß diese Befürchtung unbegründet war. Gao Ma würde sie niemals im Stich lassen. So ein Mensch war er nicht.
    Sie sah ihn wieder vor sich, wie er mit den Kopfhörern im Weizenfeld stand – dieser früheste Eindruck erfüllte ihr Herz. Mal kam es ihr vor, als wäre es erst gestern passiert, dann wieder, als hätte es sich vor hundert Jahren ereignet.
    Sie öffnete das Bündel und nahm den Kassettenrecorder heraus. Sie wollte Musik hören, bekam dann aber Angst, ausgelacht zu werden. Deshalb packte sie ihn wieder ein.
    Auf der Bank gegenüber saß eine hübsche Frau, die wie eine Wachsfigur aussah. Schwarzes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, ein schneeweißes Gesicht, fadendünne Augenbrauen, gebogen wie Mondsicheln, erstaunlich lange Wimpern und ein tiefroter, vollreifer Kirschmund. Sie trug ein Kleid in der Farbe der Roten Fahne, unter dem ihre Brüste spitz hervorstanden. Jinjü schämte sich ein wenig für sie. Sie hatte gehört, daß die Frauen in den Städten dick wattierte BHs trugen. Sie spürte ihre eigenen großen Brüste schwer nach unten hängen. Früher hatte ich immer Angst, daß es häßlich aussieht, wenn sie groß werden, und genau so ist es gekommen. Die Frauen in der Stadt wünschen sie sich größer, aber trotzdem bleiben sie klein. So verkehrt ist die Welt. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Freundinnen. Diese Dinger darf man auf keinen Fall einem Mann in die Hände fallen lassen. Wenn ein Mann sie anfaßt, gehen sie in wenigen Tagen auf wie Hefeteig. Die Freundinnen hatten recht gehabt. Ich erlebe es an mir selbst. Sie spannen jetzt sehr.
    Ein Mann – auch er natürlich eine ausgefallene Erscheinung – hatte den dauergewellten Kopf auf die Oberschenkel der Frau im roten Kleid gelegt. Die fuhr mit ihren zehn Fingern, die weiß wie Lauchstangen waren, durch sein lockiges Haar.
    Jinjü sah ihnen zu. Die Frau blickte auf und senkte sofort erschrocken den Kopf, wie auf frischer Tat ertappt.
    Im Saal wurde es heller. Eine Stimme aus dem Lautsprecher forderte die Passagiere nach Taizchen auf, sich am Bahnsteig zehn anzustellen und ihre Karten lochen zu lassen. Die Ansagerin sprach weder Dialekt noch Hochchinesisch. Ihre Stimme ging Jinjü durch und durch. In die auf den Bänken Liegenden kam Leben. Eine Schar Passagiere mit Reisetaschen, Tragekörben und Kindern auf dem Arm strömte zum Bahnsteig zehn. Die Reisenden waren in den verschiedensten Farben gekleidet. Ihre Gestalten wirkten klein.
    Das Paar verhielt sich, als wäre es allein auf der Welt. Zwei Aufseherinnen mit Besen in den Händen gingen zwischen den Bankreihen hindurch, schlugen mit dem Besenstiel auf die Hinterteile und Oberschenkel der Liegenden und riefen: »Aufstehen, alles aufstehen!« Einige der Geweckten richteten sich sofort auf, rieben sich die Augen und zündeten sich Zigaretten an, andere rappelten sich langsam hoch, warteten, bis die Aufseherinnen vorbei waren, und streckten sich dann wieder faul zum Schlafen aus. Sonderbarerweise getrauten sich die Aufseherinnen nicht, den lockigen Jüngling anzustoßen. Die Frau im roten Kleid, die seinen Kopf streichelte, fragte mit einem Blick auf die ungepflegten Aufseherinnen mit heller Stimme:
    »Fräulein, wann fährt der Bus nach Pingdao?«
    Die Frau im roten Kleid sprach ein außergewöhnlich reines Hochchinesisch. Jinjü hatte den Eindruck, einer Fee zuzuhören, die nicht nur schön aussah, sondern auch eine wohlklingende Stimme besaß.
    Die Aufseherinnen erwiderten höflich: »Um halb neun.«
    Verglichen mit der Frau im roten Kleid, klangen ihre Stimmen so ordinär, daß Jinjü sie verachtete. Sie machten sich daran, von einem Ende des Saals her den Boden zu kehren. Fast alle Männer im Wartesaal rauchten, einige Pfeife, andere Zigaretten und wieder andere Selbstgedrehtes. Auch die Hälfte der Frauen rauchte. Im Nu war die Halle vom Rauch eingenebelt, überall hörte man Husten und Spucken.
    Gao Ma kam mit einer vollen Plastiktüte zurück. Er sah Jinjüs Gesicht und fragte: »Alles in Ordnung?« Jinjü bejahte. Gao Ma setzte sich. Er nahm eine Birne aus der Tüte und überreichte sie ihr. »Die Restaurants sind noch geschlossen. Ich habe etwas Obst gekauft. Iß das.«
    »Wieso gibst du soviel Geld aus?« beschwerte sich Jinjü.
    Gao Ma wischte die Birne an seinem Jackenzipfel ab, biß hinein und sagte: »Nun iß schon, ich esse auch.«
    Ein junger Mann in abgetragener Kleidung ging die

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