Die Knoblauchrevolte
muß Sie schon irgendwo gesehen haben.«
»Sie irren sich bestimmt. Ich bettle hier seit mehr als zehn Jahren.«
Der Lockenkopf sagte: »Geben Sie uns Ihre Adresse.«
»Ich kann nicht schreiben. Schicken Sie das Geld an den amerikanischen Präsidenten mit der Bitte um Weiterleitung. Er ist mein Onkel.«
Der junge Bettler verneigte sich tief vor dem hübschen Paar, das erschrocken zurückwich. Mit anbiedernder Stimme fragte er: »Mein Herr, meine Gnädigste, wollen Sie noch andere Hunde bellen hören? Ich kann alle möglichen Hundearten nachmachen.«
»Nein, großer Bruder«, sagte der Lockenkopf mit feuchten Augen, »du bist ein guter Kerl.«
Der Bettler schüttelte sich vor Lachen, drehte sich um und ging zu Jinjü und Gao Ma. Er verbeugte sich vor ihnen und sagte: »Großer Bruder, große Schwester, schenkt mir eine süße Birne. Das viele Bellen hat mich durstig gemacht.«
Jinjü überreichte ihm hastig eine große Birne. Er nahm die Frucht in Empfang, verbeugte sich nochmals vor Jinjü und Gao Ma, verschlang die Birne mit großen Bissen und summte dabei eine Melodie durch die Nase. Dann drehte er sich um und ging, als ob er allein auf der Welt wäre, hocherhobenen Hauptes davon.
Der Lautsprecher brachte eine neue Durchsage mit der Aufforderung, sich anzustellen und die Fahrkarten knipsen zu lassen. Die Frau im roten Kleid und der Lockenkopf machten sich auf den Weg. Er zog eine Ledertasche auf Rollen hinter sich her.
Jinjü fragte Gao Ma: »Gehen wir noch nicht?«
Gao Ma blickte auf seine Armbanduhr. »Noch vierzig Minuten. Ich kann es kaum erwarten.«
Jetzt gab es niemanden mehr, der auf den Bänken schlief, obwohl weiterhin Leute kamen und gingen. Ein am ganzen Körper zitternder alter Mann bettelte die Reisenden an. Eine Frau, die ein Kind an der Hand führte, bettelte ebenfalls.
Ein nicht mehr junger Mann, der einen Kaderanzug und eine Baseballmütze trug, stand vor dem Schaukasten, eine Bierflasche in der Hand, und hielt eine Ansprache. Seine Jacke war fleckig. An der Nase fehlte ihm ein Stück Haut, so daß das rohe Fleisch zum Vorschein kam. In seiner Brusttasche steckten zwei Füllfederhalter. Jinjü hielt ihn für einen Funktionär.
Er nahm einen Schluck Bier, schüttelte die Flasche und betrachtete den Schaum, der sich bildete. Seine Zunge war schwer, und er konnte offenbar die Unterlippe nicht bewegen.
»Der neunte Kommentar zum offenen Brief des Zentralkomitees der KPdSU vom 14. Juli 1964. Chruschtschow sagte: Stalin, du bist mein wiedergeborener Vater, auf chinesisch heißt das: Stalin, du bist mein echter Vater, in der Sprache unserer Landschaft heißt das: Stalin, du bist mein lieber Vater.« Er nahm wieder einen Schluck Bier, beugte das Knie und ahmte die Stellung nach, in der Chruschtschow vor Stalin kniete.
»Aber sobald Chruschtschow an die Macht kam, hat er Stalin verbrannt. Genossen, diese historische Erfahrung ist beachtenswert.« Er trank wieder einen Schluck Bier. »Führende Genossen aller Leitungsebenen, ihr müßt wachsam bleiben, ihr dürft auf keinen Fall in eurer Aufmerksamkeit nachlassen.« Bierschaum quoll aus seinem Mund. Er hob den Arm, um sich den Mund abzuwischen, und wiederholte: »Der neunte Kommentar zum offenen Brief des Zentralkomitees der KPdSU …«
Jinjü war vom Vortrag dieses Funktionärs wie gebannt. Er gebrauchte Worte, die sie noch nie im Leben gehört hatte. Ganz besonders gefiel ihr das Wort »Stalin«, bei dem er sich, ein Zittern in der Stimme, fast die Zunge abbrach.
In diesem Augenblick kniff Gao Ma sie in den Arm und flüsterte. »Jinjü, es steht schlimm. Assistent Yang ist da.«
Sie drehte sich um, und ein eisiger Schauer überlief sie. Assistent Yang, ihr hinkender älterer Bruder und ihr bärenstarker zweiter Bruder standen im Eingang zum Wartesaal.
Sie ergriff Gao Mas Hand und stand verstört auf.
Der redselige Kader nahm noch einen Schluck Bier und rief mit weit ausholender Armbewegung: »Stalin!«
4
Der Jeep mit der breiten Ladefläche holperte am Rand des Jutefeldes entlang. Assistent Yang klopfte dem Fahrer auf die Schulter und befahl: »Halt an.«
Der Fahrer bremste, und der Jeep blieb quietschend stehen. Assistent Yang sprang aus dem Wagen und rief: »Ihr zwei, wollt ihr nicht runterkommen und euch die Füße vertreten?« Der Ältere Bruder stieß die Wagentür auf und sprang ab. Er landete etwas ungeschickt auf den Füßen, stolperte vorwärts und schwankte hin und her, bevor er sicher stand.
Der zweite Bruder gab Jinjü
Weitere Kostenlose Bücher