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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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Familie mit Kindern?
    „Scheiße”, murmelte Lukas, stemmte seinen Hintern vom Sitz hoch und kramte in seiner Hosentasche nach dem Zettel, auf dem die Adresse stand, die ihm Frau Schneider diktiert hatte. Diese Frau … wie hieß sie gleich? … die bei den Schneiders geputzt hatte. Die Frau, bei der er den Schlüssel abholen musste. Lukas fand den zerknitterten Zettel und die Adresse war ganz am anderen Ende des Dorfes. Er wiederholte das Wort Scheiße – dieses schlichte, kraftvolle Wort hatte für ihn immer etwas Befreiendes, seit er es als Kind das erste Mal heimlich in den Mund genommen hatte – und fuhr weiter. Jetzt wo er schon mal da war, konnte er auch erst beim Haus der Schneiders vorbeifahren. Sowieso war es noch nicht elf, die letzten 40 Kilometer war er zu schnell gefahren. 120 statt 100, 90 statt 70.
    Lukas bog in den Zähringerweg. Er kam an der alten, schon vor Jahrzehnten stillgelegten Malzfabrik vorbei, einem großen, braunen Backsteinbau, der mit seinen Türmchen und Erkern aussah wie eine Ritterburg. Als Kind hatte ihn dieser düstere Bau fasziniert, aber leider gab es keinen Zugang. Alles zugemauert oder mit großen Vorhängeschlössern gesichert. Wahrscheinlich hätte ich mich sowieso nicht getraut, da rein zu gehen … jedenfalls nicht allein.
    Als er an der geschlossenen Fabrik vorbei war, bemerkte Lukas ein Mädchen, das auf dem Bürgersteig saß. Sie hatte kurze, schwarze Haare, trug einen Bundeswehrparka, Jeans und verschmierte Wanderstiefel. Ihre Füße hatte sie auf die Straße gestellt, eigentlich lag sie eher auf dem Bürgersteig. Ihre Körperhaltung sagte „Ihr könnt mich alle mal” und Lukas musste grinsen. Mit einem kleinen, durchaus eleganten Schlenker umfuhr er ihre dünnen Beine. Dabei dachte er: Mach dass du von hier wegkommst, Mädchen . Die Kleine passte nach Rothenbach wie 'ne Qualle in die Sahara. Kurz überlegte er, anzuhalten und es ihr zu sagen, tat es aber nicht.
    Etwa fünfzig Meter nach der Malzfabrik bog Lukas links ab, in den Tannenweg. Jetzt nur noch ein paar hundert Meter und er war beim Haus der Schneiders. Sie sahen aus wie damals, die Wohnhäuser. Eher noch schlechter. Sie hatten ihre guten Zeiten hinter sich, überall blätterte der Putz. Erst jetzt wurde Lukas bewusst, dass er in einer der ärmeren Gegenden Rothenbachs aufgewachsen war. Es gab da vier Abstufungen: Der nördliche Ortsteil mit leichter Hanglage, großen Gärten und schicken Häuser. Hier wohnten die reicheren bzw. – so sagte man damals ohne jede Ironie – die besseren Leute. Dann gab es den Ortskern, der war auch noch okay. Auf Platz drei die Gegend, in der sich Lukas gerade befand. Die war schon ein wenig peinlich. Und schließlich, als Schlusslicht, kamen die drei grauen Wohnblocks am Ortsrand. Dort hatte Georg gewohnt, der Junge, der immer mit blauen Flecken zur Schule kam.
    Lukas spürte einen harten Schlag, hörte ein lautes Quietschen und trat auf die Bremse. Okay, es gab also doch etwas Neues in dieser Straße. Man hatte Schwellen auf den Asphalt gesetzt, die den Verkehr verlangsamen sollten. Lukas war gerade so in Gedanken gewesen, dass er sie nicht hatte kommen sehen. Dort vorne war noch eine.
    „Tut mir leid Alter”, sagte Lukas zu seinem Golf und fuhr im Schneckentempo über den nächsten Huppel. Dort vorne, gleich nach der Biegung, lag das Haus der Schneiders … gleich daneben sein Elternhaus. Lukas machte langsam und seine Gedanken wanderten von der Federung seines Wagens zu Frau Schneider. Als er ihr damals von dem Ameisenbären erzählt hatte, da hatte er wirklich das Gefühl gehabt, ernst genommen zu werden. Sie hatte sogar Fragen gestellt. Und später dann, als Daniel dem Ehepaar von der dünnen Frau erzählt hatte, da wollten die Schneiders alles über diese Frau wissen. Sie wollten sogar die Zeichnungen sehen, die Daniel tagtäglich produzierte.
    Und dann … einige Jahre später, da war Lukas schon fünfzehn … erzählten die Schneiders ihm, was sie wussten. Es war nicht viel. Aber damit war Lukas' letzter Zweifel an der Existenz dieses Wesens, das Daniel immer nur die dünne Frau nannte, verschwunden. Die Schneiders glaubten an dieses Wesen. Er und sein Bruder waren nicht mehr allein.
    Lukas fuhr langsam an dem Haus der Schneiders vorbei. Er sah, dass im Briefkasten Werbung steckte … irgendwelche bunten Prospekte. Und dann bewegte sich etwas im Garten … etwas Kleines, Schnelles. Lukas hätte schwören können, dass er gerade Lutz gesehen hatte, den

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