Die Knochenfrau
noch schamfrei hören konnte. Und er hörte sie in angemessener Lautstärke, also verdammt nochmal laut. Eine der ersten CDs, die er sich als Jugendlicher gekauft hatte, hatte die Aufschrift „Play it loud Fucker!”. Daran hatte sich Lukas seitdem gehalten.
Aber all der schöne Lärm hatte keine Chance gegen die sich ineinander schiebenden, auf- und abtauchenden Gedanken. Sie waren wie ein großes, biomechanisches Gebilde, das in seinem Kopf arbeitete. Ein verrückter Motor, der nichts antrieb und nichts verbrauchte. Eine Ansammlung von Stangen und Kolben, die einfach nur lief und lief und lief. Einer der Kolben dieses Motors war der große Ameisenbär. Immer wieder tauchte er auf, alle paar Minuten schob er sich in Lukas Bewusstsein. Und dann natürlich Peter, poor little Peter. Der Junge, den sie in die Psychiatrie (oder wohin auch immer) gesteckt hatten. Und dann der tote Herr Schneider und die Frau Schneider, wie sie ihm ihr „Sie ist immer noch da” diktiert und ihn so flehentlich angeschaut hatte, dass er ihr versprach … hoch und heilig versprach, zurück nach Rothenbach zu gehen. Und immer wieder sein Bruder, den er nicht anrufen konnte, weil er von alldem nichts mehr wissen wollte. Und … VERDAMMT! Wieso blieb diese ganze Scheiße an ihm hängen? Er sollte jetzt sofort Daniel anrufen und ihm sagen, dass er seinen platten Deutschlehrerarsch von Hamburg hier herunter nach … aber was brachte das? Was sollte das bringen außer Streit?
Lukas dachte daran, wie es damals war mit dem Kleinen. Nach vier Tagen war er aus dem Krankenhaus zurück. Äußerlich unversehrt aber viel viel ängstlicher als vor diesem Vorfall. Sie hatten ihn untersucht aber er war weder geschlagen noch sexuell missbraucht worden. Kein Kinderschänder war aus dem Wald gekommen und hatte sich den Kleinen geschnappt. Natürlich hatten sie versucht, aus ihm heraus zu bekommen, was denn nun passiert war. Sogar ein Kinderpsychologe war bei ihnen zuhause, ein netter Typ mit Fusselbart und Norwegerpulli. Aber Daniel hatte wohl nur wirres Zeug geredet … „Wirres Zeug” in ihren Augen. Sie hatten alles als Einbildung abgetan.
Lukas aber wusste, dass Daniels Zustand etwas mit dem verdammten Wald zu tun hatte. Und mit dem verdammten Ameisenbären. Er wusste es von Anfang an und Daniels Verhalten bestätigte ihn. Wieso traute sich sein Bruder nicht mehr vor die Tür? Und wieso erst recht nicht hinter das Haus? Er hielt sich ja sogar von den Fenstern fern, die an der Rückseite des Hauses lagen.
Einige Wochen später erzählte Daniel ihm etwas … längst nicht alles, aber zumindest etwas. Sie lagen in ihrem Etagenbett, es war schon nach zehn und leise hörten sie den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Da fing Daniel ganz plötzlich an zu erzählen.
Er war dem Ameisenbären wieder begegnet. Ganz ruhig hatte das große Tier am Zaun gestanden, ganz friedlich. Und als Daniel näher kam, da blieb es stehen und ließ sich anschauen. Nach ein paar Sekunden drehte es sich um und verschwand im Wald.
Diesmal war kein älterer Bruder da, der Daniel hinten an der Hose packen und ins Haus schleifen konnte. Der ältere Bruder war noch in der Schule, kilometerweit weg. Und so kletterte der Kleine über den Zaun und folgte dem Wesen. Wie lange und wie weit hinein in den Wald, das wusste er nicht mehr. Er wusste nur, dass der große Ameisenbär plötzlich verschwunden war und dass dann – ganz plötzlich, wie aus dem Nichts – eine ganz dünne Frau da war, die nach ihm griff. Sie versuchte, Daniel festzuhalten, aber er riss sich los und rannte weg. Er musste furchtbare Angst gehabt haben, er rannte und rannte.
„Und sie war immer die ganze Zeit hinter mir her.” An diesen Satz seines Bruders erinnerte Lukas sich gut. Genau so hatte es der Kleine gesagt. Wie er aus dem Wald hinausgekommen war, wie er zum Haus zurückgefunden hatte, das wusste Daniel nicht mehr. Er wusste auch nicht mehr, wie ihn seine Mutter gefunden hatte und wie sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten.
Einige Wochen nachdem Lukas von seinem kleinen Bruder diese Geschichte gehört hatte, da fing das mit den Zeichnungen an. Daniel malte die dünne Frau. Es waren die Bilder eines Kindes, nicht viel darauf zu erkennen. Nur eben dieses dürre Wesen mit den Krallenhänden. Grau war sie, er malte sie immer ganz grau. Für die Bäume nahm er Grün.
Daniel zeichnete diese Frau mehrere Jahre lang. Ein graues, dünnes Wesen. Und dann – Lukas war elf, Daniel gerade neun geworden – hörte es
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