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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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stolperte über den Bordstein. Aber dann war er bei Daniel. Der Kleine war weiß wie Schnee und auf seinem Pullover klebte Erbrochenes. Seine Augen waren offen und er bewegte die Lippen, als ob er etwas sagen wollte. In diesem Moment wurde Lukas von hinten gepackt. Seine Mutter zog ihn von der Trage weg und nahm ihn in den Arm, ihr Gesicht war ganz feucht. Aus dem Augenwinkel sah Lukas, wie die Sanitäter seinen kleinen Bruder in den Wagen schoben.
    An das, was dann kam, erinnerte Lukas sich gut. Seine Mutter fuhr mit Herrn Schneider – der Vater war noch bei der Arbeit und die Kramers hatten nur den einen Wagen – dem Krankenwagen hinterher. Lukas musste bei Frau Schneider bleiben, die ihm Kakao kochte. Er fragte sie, was denn passiert sei, aber sie wusste es nicht. Und dann, dann kamen ihm ganz plötzlich die Tränen und er sagte, dass es ihm so leid tue und dass er seinen kleinen Bruder hätte beschützen müssen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.
    Frau Schneider nahm Lukas in den Arm und sagte ihm immer wieder, dass es nicht seine Schuld sei und dass ja gar nicht klar sei, was denn nun passiert war. Aber Lukas ließ sich nicht trösten. Und dann, dann erzählte er Frau Schneider von dem großen Ameisenbären, den er gesehen hatte und mit dem Daniel mitgehen wollte. Und anders als bei seinen Eltern hatte Lukas den Eindruck, dass ihm Frau Schneider ganz aufmerksam zuhörte. Sie schien ihm tatsächlich zu glauben. Sie sagte ihm sogar, dass er stolz auf sich sein könne. Schließlich habe er ja versucht, seinen kleinen Bruder zu beschützen.
     
    *
     
    Um acht stand Lukas auf. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen und verzichtete auf das Frühstück. Schon der Kaffee war fast zu viel für ihn. Immer noch konnte er abbrechen. Ganz einfach hierbleiben, weiter dieses kleine und unbedeutende, allerdings durchaus erträgliche Leben leben. Einfach so tun, als sei nichts gewesen.
    Allerdings – das bemerkte er zu seinem Erstaunen – mischte sich in all den Widerwillen, all den Abscheu, den er angesichts der Aussicht empfand, dass es zurück nach Rothenbach ging, noch etwas anderes. Lukas fühlte sich auf seltsame und ein wenig beunruhigende Art … krafterfüllt. Wie ein Fallschirmspringer kurz vor dem Absprung. Wie ein Boxer kurz vor dem Kampf. Auf eine ihm unvertraute Art war er voller Leben. All die Zweifel, mit denen er sich in den vergangenen Monaten herumgeschlagen hatte, all diese Kämpfe zwischen Hank und Manfred, seinem Bedürfnis, frei zu leben und seinem Bedürfnis nach Sicherheit und Anschluss, all diese Kämpfe waren plötzlich nicht mehr wichtig. Waren sie überhaupt je wichtig gewesen? Lukas hatte etwas vor, er hatte eine Aufgabe. Er lebte nicht mehr einfach nur sein eigenes kleines Leben. Er lebte auf etwas zu. Er hatte das Gefühl, der Sinn, den er so oft vermisst hatte, dieser – um es ein wenig pathetisch auszudrücken – Sinn des Leben hatte plötzlich um die Ecke geschaut und ihn gefragt, wo er denn bleibe.
    Zwar schwankte er – wie denn auch nicht? Verdammte Scheiße! – zwischen seinen Optionen. Noch während er die Reisetasche zum Auto trug, überlegte er, einfach wieder umzukehren. Doch wie auch immer er sich entscheiden würde, seine Entscheidung hatte Bedeutung. Es war nicht egal, was er tat. Und als Lukas dann in seinem alten Golf saß, die Hände auf das zerschlissene Lenkrad legte und tief durchatmete, da fühlte er sich verdammt nochmal so lebendig wie seit Jahren nicht mehr. Besser Angst als gar kein Gefühl. Besser das als die verdammte Alltagsscheiße, die einem auf Dauer das Hirn aus dem Schädel fraß und den Mumm aus den Knochen saugte.
    Lukas startete den Wagen, ließ die Kupplung kommen, trat tapfer aufs Gaspedal und würgte den Motor ab. Er musste über sich selbst lachen und beim zweiten Versuch fuhr der alte Golf ganz geschmeidig an. Lukas drehte die Lüftung auf und schaltete das Radio an. Die ersten Meter Richtung Rothenbach waren geschafft … dann schon hundert Meter … und dann war er heraus aus Freiburg, die Gegend wurde waldig.
    Eigentlich wollte er ja Musik hören. Sich ablenken … sich Mut machen. Er fischte in der Türablage nach CDs, fand die „Master of Puppets“ von Metallica, etwas von Johnny Cash (die Schwarze, auf der nur ein großer Cash-Schriftzug und das Profil des Sängers ist) und entschied sich für seinen Drittfund, die „Frenching the Bully” von den Gits, einer der Bands, die er als Jugendlicher entdeckt hatte und die er auch heute

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