Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
Vom Netzwerk:
plötzlich auf. Vielleicht hatte er die Frau ja so oft gezeichnet, dass er sie jetzt aus seinen Gedanken verbannen konnte. Vielleicht hatte er sie aus seinem Kopf aufs Papier übertragen, um das Papier dann wegzuwerfen. Eines Tages fand Lukas in ihrem gemeinsamen Zimmer einen dicken Stapel Blätter. Er ragte aus dem Papierkorb und Daniel hatte ihn so fest hineingestopft, dass es Lukas kaum gelang, den Stapel herauszuziehen. Auf jedem einzelnen Blatt war die dünne Frau. Es waren hunderte von Zeichnungen.
    Lukas schaltete zurück und gab Gas. Es ging den Berg hoch und das mochte die Karre überhaupt nicht. Der Golf war 12 Jahre alt und hatte 220.000 Kilometer. Bei Belastung stotterte der Motor, Lukas tippte auf die Zylinderkopfdichtung. Nur noch rund 60 Kilometer bis Rothenbach. Was waren 60 Kilometer gemessen an 220.000? Das würde die alte Kiste noch schaffen … kaum jedoch den TÜV-Termin in vier Monaten. Aber war das wichtig? Nein, war es nicht.
    Als Lukas das erste Straßenschild sah, das den Ort ankündigte, in dem er Kindheit und Jugend verbracht hatte, da zog sich sein Magen zusammen und seine Hände zitterten.
    „Das gibt es doch nicht”, murmelte Lukas. Er war erstaunt darüber, dass sich sein Abscheu körperlich manifestierte. Am liebsten hätte er umgedreht. Und zugleich wollte er nach Rothenbach, er hatte schließlich verdammt nochmal eine Aufgabe … auch wenn er noch nicht wusste, wie denn diese Aufgabe aussah.
    Lukas schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst. Eigentlich hielt er sich ja für recht robust. Für einen Mann, der seine Emotionen unter Kontrolle hat. Aber jetzt waren seine Gefühle eine grotesk unordentliche Angelegenheit, ein unentwirrbares Knäuel aus Abscheu, Angst, Anspannung und Vorfreude. Ja, Vorfreude … irgendwie auch das. Vermischt mit allem anderen.
    Lukas gab Gas. Um so eher er dort war, umso besser. Weit war es nicht mehr. Ein unbedeutender Ort wie Rothenbach, der wurde auf Verkehrsschildern erst angekündigt, wenn man schon fast dort war. Obwohl er zu schnell war, überholte ihn ein neongelber Dreier-BMW. Die Karre kam gefährlich nahe. Was 'n Arsch, dachte Lukas. Einige Minuten später sah Lukas den BMW am Straßenrand stehen, dahinter einen Polizeiwagen. Es gab also so etwas wie Gerechtigkeit in der Welt. Lukas zündete sich grinsend eine Zigarette an.
     

4. Zwei Schlüssel und ein Briefumschlag
     
    Als Lukas das Ortsschild passierte, da fielen einige Bröckchen seiner Anspannung von ihm ab. Ja, natürlich … das war das beschissene Rothenbach. Aber es war nicht mehr ganz das Rothenbach, aus dem er vor über einem Jahrzehnt abgehauen war. Gleich neben dem Ortsschild stand eine große, aus Strohballen zusammengestückelte Puppe. Komplett mit Hut, Hose und Pfeife. Daneben ein Schild: Rothenbach begrüßt seine Gäste.
    Machte das Kaff jetzt auf Tourismus? Es schien so. Die meisten Häuser entlang der Hauptstraße waren frisch gestrichen. Alle in unterschiedlichen Farben, wie die Stifte in einem Wachsmalkasten. Und auch der „Ochsen”, das gutbürgerliche Restaurant, in das die Familie Kramer früher ab und zu ging, hatte sich herausgeputzt. Der Schuppen hatte jetzt ein „Biker willkommen!”-Schild. Und dem Metallochsen, der seit Jahrzehnten über dem Eingang baumelte, hatten sie einen goldenen Anstrich verpasst. Wahrscheinlich, so dachte sich Lukas, servierten sie drinnen immer noch den gleichen Fraß: Schnitzel, Pommes, Salat – der Klassiker. Rahmsoße drüber und das Stück Fleisch war plötzlich ein Rahmschnitzel. Dosenpilze in die Rahmsoße und daraus wurde ein Jägerschnitzel. Eklige Paprikapampe drauf und siehe da! – fertig war das Zigeunerschnitzel.
    Natürlich hatte die Speisekarte des Ochsen noch mehr zu bieten, das wusste Lukas durchaus. Eben anderen Fraß. Aber in seiner Erinnerung stand der Laden nur für die diversen Unterarten des Schnitzels. Das Restaurant hätte genauso gut Schnitzelhölle heißen können.
    Lukas bog von der Hauptstraße rechts ab und fuhr den kleinen, sauber einbetonierten Dorfbach entlang. Hier war Rothenbach schon nicht mehr ganz so aufgehübscht, hier bröckelte der Putz. An einer Ampel stand ein dicker, mürrisch schauender Mann in blauer Latzhose. Lukas kannte das Gesicht, kam allerdings nicht auf den Namen.
    Jetzt erst merkte er, dass er auf dem Weg zum Haus der Schneiders war … ans Ende von Rothenbach, dorthin, wo der Wald anfing und wo auch sein Elternhaus stand. Wer wohnte mittlerweile dort? Eine andere

Weitere Kostenlose Bücher