Die Knochenfrau
Hörer halten … also damit sie mich versteht.”
Wieder eine Pause von mehreren Sekunden. Was war los mit dem Typen? War er irgendwie beschränkt oder hatte er einfach keine Lust?
„Hallo, sind Sie noch da?”, fragte Lukas.
„Ja ja, ich bin da. Also das mit dem Hörer kann ich schon machen. Aber die Frau Schneider spricht ja nicht.”
„Das weiß ich”, antwortete Lukas. „Aber sie kann sich durch Blinzeln verständigen. Die Frau Schneider ist ja geistig völlig klar.”
„Ach so, das wusste ich nicht”, antwortete der Pfleger. „Das hat uns keiner gesagt.”
Langsam aber sicher wurde Lukas wütend. Was für ein Saftladen! Er stellte sich vor, dass Frau Schneider in irgendeinem Bett lag und wie ein hirntotes Stück Gemüse behandelt wurde. Wahrscheinlich starrte sie den ganzen Tag die Zimmerdecke an. Lautstark atmete er aus.
„Die Frau Schneider ist geistig absolut klar, sie ist lediglich gelähmt. Sie versteht und begreift alles. Und sie kann sich durch Blinzeln verständlich machen. Man stellt ihr eine Frage und einmal Blinzeln heißt „Ja”, zweimal heißt „Nein”, dreimal heißt „Weiß nicht”. Außerdem kann sie mithilfe einer Buchstabentafel auch ganze Wörter bilden.”
„Eine Buchstabentafel?”
„Ja, so ein Brett mit Buchstaben drauf. Das hatten sie auf der Station, wo die Frau Schneider bisher lag. So etwas müssten Sie doch auch haben.”
„Nicht dass ich wüsste”, antwortete der Pfleger. „Wie sieht denn so was aus?”
Lukas unterdrückte seine Wut und erklärte es ihm. Der Pfleger versprach, sich nach so einer Tafel umzusehen.
„Kann ich jetzt die Frau Schneider sprechen?”
„Ja, Moment. Ich geh zu ihr ins Zimmer.”
Lukas hörte die Schritte des Pflegers. Hoffentlich sah sich der Typ wirklich nach so einem Brett um. Hoffentlich sagte er den Kollegen, dass Frau Schneider geistig völlig klar war. Lukas traute ihm nicht. Der Kerl schien keine große Lust auf seine Arbeit zu haben. Wie alt war der überhaupt? Er hörte sich an wie 16, wie ein gelangweilter Jugendlicher, der sich nach seiner Playstation und/oder seiner Wasserpfeife sehnt.
„Hallo Herr Kramer, ich bin jetzt da.”
„Dann halten Sie ihr doch bitte das Telefon ans Ohr. Und wenn sie einmal blinzelt, dann rufen Sie laut „Ja”, bei zweimal Blinzeln „Nein” und bei dreimal „Weiß nicht”. Alles klar?
Lukas bekam keine Antwort, nur ein Rascheln kam aus der Leitung. Dann hörte Lukas deutlich Atemgeräusche.
„Hallo Frau Schneider”, fing Lukas an. „Ich hoffe dass es Ihnen einigermaßen gut geht und dass Sie anständig behandelt werden. Ist alles okay bei Ihnen?”
Er wartete auf die Stimme des Pflegers. Er dachte schon, der Typ habe das System nicht verstanden. Aber dann sagte er laut und deutlich Ja.
„Ich bin jetzt in Rothenbach. Ich habe schon den Schlüssel geholt und auch den Umschlag gefunden … und natürlich den Brief, den ihr Mann geschrieben hat. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich mich um alles kümmern werde. Ich werde also fortführen, was Sie und Ihr Mann angefangen haben. Sie müssen sich keine Sorgen machen, ich werde mich um das Problem kümmern.”
Lukas machte eine Pause und der Pfleger sagte Ja. Dumm nur, dass Lukas selbst nicht an das glaubte, was er da erzählte. Er hatte sich eben nicht sofort gekümmert und jetzt war ein Kind tot. Und er hatte keine Ahnung, was zu tun war. Die Vorstellung, im Haus der Schneiders zu bleiben und regelmäßig Blut in den Wald zu tragen, war nicht nur abstoßend, sie war auch lächerlich.
„Ich werde mich um alles kümmern”, wiederholte Lukas. „Finanziell bin ich erst einmal versorgt. Ich rufe Sie in ein paar Tagen wieder an und halte Sie auf dem Laufenden. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Schneider. Und machen Sie sich keine Sorgen.”
Lukas wartete einige Sekunden. Dann hörte er ihr Atmen nicht mehr. Laut rief er: „Hallo, sind Sie da? Ich möchte noch was fragen.”
Der Pfleger meldete sich und Lukas erfuhr, dass Frau Schneider körperlich in gutem Zustand war. Er fragte den Typen, ob sie in diesem Heim bliebe oder noch einmal verlegt werde. Das wusste der Pfleger nicht. Lukas ließ sich die Nummer der Heimleitung geben und legte auf. Er war froh, die träge und seltsam ausdruckslose Stimme seines Namensvetters nicht mehr zu hören.
*
Lukas hatte seinen Wagen direkt vor dem schmiedeeisernen Gartentor geparkt. Er war dabei, den Kram, den er gerade gekauft hatte, in der kleinen Küche zu verstauen, als er
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