Die Knochenfrau
ein Geräusch hörte … aus dem Garten … durch das gekippte Küchenfenster. Lukas drückte den Kühlschrank zu und war mit einem Schritt am Fenster. Er schob die Gardine beiseite und sah hinaus in den Garten. Nichts … nur das struppige Grünzeug und der schäbige Drahtzaun, der Zaun, über den er und sein Bruder so oft geklettert waren … es war immer noch derselbe. Auf der anderen Seite des Drahtgeflechts der Garten des Hauses, in dem Lukas aufgewachsen war. Sah alles sehr gepflegt aus, das Haus war auf jeden Fall bewohnt. Unter einem kleinen Holzdach stand ein roter Rasenmäher mit weißem Auffangkorb.
Lukas räumte die Lebensmittel ein und ging ins Wohnzimmer. Er betrachtete die vielen Andenkenteller an den Wänden. Sein Bruder hatte einmal einen herunter geworfen und das war das einzige Mal, dass Lukas die Schneiders wütend erlebt hatte. Er sah sich die Teller an und fand tatsächlich ein Exemplar mit einem großen Sprung. Die Schneiders hatten den Teller geklebt, beim Zusammendrücken war Klebstoff aus dem Riss hervorgequollen, sie hatten den Kleber abgewischt und er hatte matte Schlieren auf dem Porzellan hinterlassen.
„Scheiße”, sagte Lukas zu sich selbst. Das Haus kam ihm vor wie eine Gedenkstätte. Jeder Gegenstand war Zeugnis eines gemeinsamen Lebens, das vor wenigen Tagen sein Ende gefunden hatte. Und – das musste Lukas sich eingestehen – es war Zeugnis seiner eigenen Vergangenheit. Sie hatten wirklich alles gelassen, wie es war. Nur das Pflegebett, die grünen Packungen mit Windeln und der Geruch nach Desinfektionsmitteln zeigten an, dass auch die Schneiders den Verwüstungen der Jahre nicht entkommen waren. Lukas versuchte, sich vorzustellen, wie es die letzten Jahre gewesen war. Frau Schneider gelähmt im Bett, ihr Mann in der Wohnung zugange. Wie hatte er das überhaupt geschafft? So weit sich Lukas erinnerte, lebten die Schneiders noch die klassische Arbeitsteilung. Er arbeitete bis sechzehn Uhr, sie kümmerte sich ums Essen und um den Haushalt. Lukas konnte sich Herrn Schneider nicht am Herd vorstellen, ebenso wenig auf dem Boden kniend mit einem Putzlappen.
Plötzlich kam Lukas der Gedanke, dass er sich mit seinen Grübeleien nur davor drückte, sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren, seinen Verstand auf seine Aufgabe zu lenken. Er zündete sich eine Zigarette an und öffnete eines der beiden Wohnzimmerfenster, lehnte sich hinaus, atmete kühle (aber nicht mehr kalte) Luft und beobachtete den Waldrand. Als er fertig geraucht hatte, drückte er seine Zigarette in einer aus der Küche mitgebrachten Untertasse aus, fummelte sein Telefon aus der engen Hosentasche und rief noch einmal in dem Pflegeheim an, in dem Frau Schneider auf dem Rücken lag und wahrscheinlich die Zimmerdecke anstarrte. Es war kurz nach fünfzehn Uhr, eine gutgelaunte Sekretärin stellte ihn zur Heimleitung durch.
„Ja hallo, mein Name ist Lukas Kramer. Ich bin ein guter Freund von Frau Schneider, die ist seit kurzem bei Ihnen. Ich passe momentan auf ihr Haus auf. Ich wollte fragen, wie es jetzt weitergeht mit Frau Schneider … also bleibt sie bei Ihnen oder kommt sie zurück hier ins Haus?”
Lukas verstand nur die Hälfte von dem, was ihm die Frau am anderen Ende der Leitung erzählte. Scheinbar war noch nichts entschieden. Da Frau Schneider keine Verwandten hatte, suchte man einen gesetzlichen Betreuer für sie. Zusammen mit diesem Betreuer müsse Frau Schneider dann entscheiden, wo sie zukünftig leben werde. Entweder in einem Heim oder zu Hause mit ambulanter Betreuung. Die Frau erzählte Lukas etwas von unterschiedlichen Pflegestufen, Witwenrente und verschiedenen Zusatzleistungen. Aber am Ende ihres Vortrags war ihm nur klar, dass noch überhaupt nichts klar war.
„Haben Sie noch irgendwelche Fragen?”
„Ja, ähm … wissen Sie, wann die Beerdigung von Herrn Schneider ist? Er ist ja vor ein paar Tagen gestorben.”
Sie wusste es nicht, versprach aber, sich wieder zu melden.
„Das wäre nett. Bitte achten Sie darauf, dass Frau Schneider nicht die Beerdigung ihres Mannes verpasst, sie kann sich ja nicht äußern. Ich habe das vorhin schon dem Pfleger gesagt, aber vielleicht könnten Sie das noch einmal weitergeben: Die Frau Schneider ist geistig völlig klar, sie ist nur körperlich beeinträchtigt.“
Die Frau versprach ihm, die Kollegen noch einmal darauf hinzuweisen. Dann verabschiedete sie sich und legte auf. Lukas wählte die Nummer von Sven Polmeyer.
„Hallo Sven, ich bin's,
Weitere Kostenlose Bücher