Die Knochenfrau
gesehen?”
Frau Pfeiffer tat so, als würde sie überlegen. Sie rieb sich das Kinn und rückte ihre Brille zurecht.
„Nein, das war wirklich nur so ein Gefühl. Aber ein ganz starkes Gefühl. Ich hab echt gedacht, da ist jemand. Haben Sie denn schon irgendwelche Anhaltspunkte?”
„Nein, bisher noch nicht. Das braucht alles seine Zeit.”
„Sie würden mir ja eh nichts sagen”, antwortete Frau Pfeiffer und der Satz kam ein wenig aggressiver heraus als beabsichtigt. Die junge Polizistin wirkte erstaunt und Frau Pfeiffer ärgerte sich über sich selbst. Sie fühlte sich ertappt.
„Ähm ... wie gesagt, das braucht alles seine Zeit. Bitte halten Sie sich bereit, wir müssen uns mit Ihnen noch ausführlicher unterhalten, die Kollegen melden sich dann bei Ihnen. Sind Sie die nächste Zeit zu Hause?”
„Ich bin da, Sie können mich jederzeit erreichen”, antwortete Frau Pfeiffer. Ihren Tonfall hatte sie diesmal ausgezeichnet unter Kontrolle. „Ich bin ja froh, wenn ich helfen kann. Das ist ja wirklich schrecklich, dass so etwas hier passiert. Das hält man ja überhaupt nicht für möglich. Ich bin ja so erschrocken, als ich den armen Jungen gesehen habe.”
„Vielleicht sollten Sie sich ein wenig hinlegen.”
„Ja, das werde ich machen. Keine Sorge, junge Frau, bei mir geht es schon. Kommen Sie nachher noch einmal zu mir?”
„Wahrscheinlich werden sich direkt die Kollegen mit Ihnen unterhalten.”
„Ach so … Kriminalpolizei dann.”
„Genau.”
„Dann auf Wiedersehen.”
„Wiedersehen.”
Die Polizistin lief Richtung Gartentor und Frau Pfeiffer schloss die Haustür. Sie griff sich das Telefon, lief zum Küchenfenster und wählte dabei die Nummer ihrer Schwester. Als endlich abgenommen wurde und Frau Pfeiffer ein „Ja, hallo?” hörte, da antwortete sie nicht gleich. Sie beobachtete einen Mann mit kurzen Haaren und Lederjacke, der sich mit der jungen Polizistin unterhielt, die sie eben nach ihrem Befinden gefragt hatte. Irgendwoher kannte sie den Mann. Aber sie kam einfach nicht darauf, woher. All die anderen Leute, die da draußen herumstanden, kannte sie. Die halbe Nachbarschaft war schon versammelt. Endlich passiert mal was , dachte Frau Pfeiffer. Sofort schämte sie sich für ihren Gedanken.
*
Lukas hatte seinen alten Golf auf dem Bürgersteig geparkt. Vier Polizeiwagen, ein Krankenwagen und ungefähr zwanzig Schaulustige standen herum. Auch die Presse war schon da, Typen mit fetten schwarzen Kameras. Lukas ahnte, was passiert war, sein Mund wurde trocken und seine Hände zitterten. Er hatte sich unter die Schaulustigen gestellt und einen älteren Mann gefragt, was denn los sei. Er wusste es nicht. Dann hatte Lukas diese Polizistin gesehen und sie sofort erkannt. Sie kam aus einem der Gärten, die zu den Einfamilienhäusern gehören, die an dieser Straße aufgereiht waren. Auf der anderen Straßenseite war nur ein schmaler Fußweg und dann der Wald. Lukas kannte diese Straße, er kannte eigentlich jede Straße Rothenbachs. Er ging der Polizistin entgegen und fing sie ab.
„Hallo Nadine.”
„Lukas?” Sie schaute ihn erstaunt an und neigte ihren Kopf zur Seite. „Bist du das?”
„Höchstpersönlich”, antwortete Lukas und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Es gelang ihm nicht recht. Seine Hände behielt Lukas in den Hosentaschen, so konnte er sein Zittern verbergen.
„Was machst du denn hier? Ich dachte, du setzt keinen Fuß mehr in dieses Kaff.”
„Mein ehemaliger Nachbar ist gestorben und seine Frau hat mich gebeten, dass ich mich um das Haus kümmere. Sie liegt im Krankenhaus und hat niemanden sonst. Vielleicht kennst du sie ... Wilma Schneider.”
„Ja, kenn ich. Die Frau, die den Schlaganfall hatte. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.”
„Wohnst du noch hier in Rothenbach?”, fragte Lukas.
„Ja, wir haben ein Haus ein bisschen außerhalb. Da haben die Kinder mehr Platz zum Spielen.”
Lukas grinste sie an, die Frau, an die er seine Unschuld verloren hatte. Er war damals 17, sie 16. Sie sollten zusammen ein Referat vorbereiten, hatten dann aber mehr Lust, es zu treiben. Vier Tage hintereinander vögelten sie in Nadines quietschendem und viel zu kleinem Kinderbett. Immer in der Angst, ihre Eltern könnten herein kommen … beide auf einmal … die Mutter mit dem Fotoapparat, der Vater mit dem Jagdgewehr. Scheiße! Sie sah immer noch gut aus. Sie hätte auch als Mitte Zwanzig durchgehen könne.
„Was ist denn hier passiert?”,
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