Die Knochenfrau
weil diese leicht zu überwältigen waren. Vielleicht passten Erwachsene nicht ins Beuteschema. Vielleicht würde ein erwachsener Mann mit diesem Biest fertig werden.
Lukas klappte den Laptop zu und schlief vier Stunden mit angewinkelten Beinen. Als er kurz nach halb acht erwachte, da schien schon die Sonne. Es war völlig ruhig im Haus. Er ging ins Badezimmer, pinkelte, duschte kalt, putzte sich die Zähne und rasierte sich. Er zog sich an, sah auf sein Handy und ging nach unten in die Küche. Während er sich ein einfaches Frühstück machte, war ihm mehrere Male, als hätte er Stimmen gehört. Aber das konnte von einem der Nachbargrundstücke kommen.
Lukas aß zwei Scheiben Toast und ging dann mit der Kaffeetasse durch die Zimmer. Er sah aus jedem Fenster und suchte mehrere Minuten den Waldrand ab. Nichts Auffälliges … kein Hund, der längst tot war, keine Kätzchen, kein grinsendes, mit Haut überzogenes Skelett und auch kein aufrecht gehender Ameisenbär. Lukas ging in den Flur, zog sich die Jacke an, nahm seinen Rucksack und öffnete die Haustür. Es war kühl aber nicht kalt. Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem kleinen Schreibwarenladen in der Postfiliale. Dort suchte er die Regale ab und hörte das Gespräch zweier Frauen mit an, die wenige Meter von ihm entfernt standen. Die eine sagte immer mehrmals laut „Den müsst' ma' erschieße' wo des getan hat.” Die andere Frau sprach so leise, dass Lukas sie nicht verstand. Es ging wohl um den toten Jungen.
Lukas nahm eine Rolle schwarzes, stabiles Isolierband aus einem der Regale. Er bezahlte 4,99 und fuhr zu der Stelle, an der es den Jungen erwischt hatte.
Der Pfad in den Wald war abgesperrt und ein dicker Polizist lehnte an einem älteren Polizeiwagen ohne Radkappen. Lukas fuhr weiter, fuhr eine halbe Stunde durch den Ort und parkte seinen Wagen immer dort, wo es in den Wald ging. Er unternahm zwei größere und vier kleinere Walderkundungen. Nichts geschah, nur einmal fiel ihn ein gewaltiger Schwarm Mücken an und er rannte fluchend vor den Viechern davon. Kurz nach sieben war Lukas wieder im Haus der Schneiders, frustriert und planlos. Das ganze Herumgelaufe hatte nichts gebracht außer noch mehr juckenden Pusteln. Lukas behandelte die Stiche mit einem metallenen Messergriff, den er über dem alten Toaster der Schneiders erhitzte und dann auf die Stiche drückte. Die Behandlung wirkte, der Juckreiz ließ nach.
Am Küchentisch der Schneiders, mit dem Blick auf sein Auto, würgte Lukas eine Portion Nudeln mit Tomatensoße und angebratenen Zwiebeln herunter. Die Pampe schmeckte furchtbar langweilig, er hatte das Salz vergessen. Dann duschte Lukas, machte ein paar Rundgänge durchs Haus, schaltete den Flachbildfernseher an und wieder aus, aß ein Stück Schokolade, machte zwanzig Liegestütze und dann … es war kurz nach acht und die Sonne war auf dem Rückzug … wollte er sich nicht mehr drücken. Er ging zu dem Pflegebett, öffnete fluchend den Nachtschrank und legte sich erneut alles zurecht. Ganz hinten in einer der Schubladen fand er ein gelbes Band, das wohl dazu gedacht war, es um den Oberarm zu binden und so das Blut zu stauen. Diesmal also kein Rumgeklopfe. Neben sich auf dem Bett hatte Lukas seinen Laptop stehen, auf YouTube gab es schließlich dutzende von Videos mit mehr oder weniger gelungenen Blutabnahmen. Lukas hatte sich eine Art Schulungsvideo für Krankenpfleger herausgesucht. Das sah professionell und nicht allzu schmerzhaft aus. Dumm nur, dass es kein Schulungsvideo für einarmige Krankenpfleger war, Lukas musste das Ganze schließlich mit einer Hand schaffen. Er setzte sich aufs Bett, schob den Ärmel seines Pullis hoch und wickelte sich das Band – laut Video hieß das Ding „Stauschlauch”, es war aber kein Schlauch – um den linken Oberarm. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, das Band festzuzurren. Er desinfizierte eine Stelle auf seinem Unterarm, genau dort, wo gerade eine dicke blaue Ader hervorgetreten war. Dann nahm er eine Kanüle aus ihrer Plastikpackung … Scheiße, was mache ich hier überhaupt? … verband sie mit einer der großen Plastikspritzen und hielt sich das Ding an den Arm. Die Sache war umständlich und ekelhaft, die Spritze kam ihm riesengroß vor und die Nadel fühlte sich kalt an. Nie würde er eine Krankenschwester mit solch einem Apparat an sich ran lassen, das Ding sah aus wie aus einem Zeichentrickfilm.
Lukas holte Luft und drückte zu … drückte aber nur eine Delle in die blasse Haut.
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