Die Knochenfrau
Rückweg. Er ging leise, schlich durch den Wald, kam sich vor wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirscht. Und dann kam er sich albern vor. Er war kein Raubtier, er war ein Trottel, ein Trottel, der nicht nur die Nadel im Heuhaufen sucht, sondern der darüber hinaus nicht einmal weiß, wie gefährlich diese Nadel ist.
Lukas blieb stehen und schaute sich um. Ein Meer aus Bäumen, die sich zum Licht strecken. Der Waldboden bedeckt mit Totholz, das niemand weggeräumt hatte. Ich musst ein Gefühl für den Wald entwickeln , dachte sich Lukas. Das ist ihr Lebensraum . Und sofort kam ihm das Gedachte völlig lächerlich vor. Was sollte das überhaupt sein, ein Gefühl für den Wald? Dieser scheiß Wald war nichts weiter als eine Ansammlung großer Pflanzen, in dem sich Was-auch-immer vorzüglich verstecken konnte und in dem immer wieder Kinder getötet wurden.
Lukas ging mit schlechter Laune zum Haus zurück. Er wusste nicht, was er machen sollte. „Was für eine Scheiße”, sagte er, als er aus dem Wald trat und die Reihe kleiner Häuser sah. Plötzlich stand ihm das Bild eines alten, verbitterten Mannes vor Augen, der „Was für eine Scheiße” murmelnd seit Jahrzehnten durch die Wälder rund um Rothenbach zog und alle zwei Wochen irgendeiner Kreatur eine Schale voll Blut hinstellte. Das konnte es nicht sein. Er brauchte einen Plan, irgendeinen Ansatzpunkt. Vielleicht brauchte er auch nur sein Auto … einfach abhauen … zurück nach Freiburg … zurück in seine kleine Wohnung, zurück hinter die Bar. Was ging ihn die Sache überhaupt an?
8. Haben Katzen Krampfanfälle?
Abwechselnd schweigend und schreiend trauerten zwei Erwachsene um ihr Kind, gegen 22 Uhr gewann das Schweigen die Oberhand. Der Körper des Kleinen war mittlerweile in der nächstgrößeren Stadt und man wurde nicht schlau aus den Spuren, die der Leichnam aufwies. Ein Tier? Ein Mensch? Ein …? Man hatte den schmalen Körper in eine Wand aus Metallfächern geschoben, hatte sich umgezogen und war nach Hause gefahren.
Lukas war nicht zurück nach Freiburg gefahren, hatte sich allerdings auch kein Blut abgenommen. Er hatte etwas gegessen und sich dann im oberen Stockwerk des Hauses in einem kleinen Gästezimmer eingerichtet. Gegen elf ging er ins Bett und konnte nicht schlafen. Das Bett war zu kurz, die Gedanken kreisten und die Mückenstiche juckten. Außerdem lauschte Lukas auf Geräusche, die nicht kamen. Keine Schritte auf dem Dach, keine Steine gegen die Fenster, auch kein Hundegebell.
Kurz nach drei stand Lukas auf, schloss seinen Laptop an und suchte im Netz nach Berichten von der dürren Frau. Er gab Begriffe wie „Rothenbach”, „tote Kinder”, „Kinderfresser”, Fabelwesen das Kinder tötet” ein und fand tatsächlich einen kleinen Artikel über ein „Knochewiibli”, eine Schwarzwälder Sagengestalt, die es dem Volksglauben nach auf Kinder abgesehen hatte. Es gab sogar eine kleine Zeichnung zu dem Artikel: Ein grinsendes, mit Haut überzogenes Skelett. Unter der Zeichnung stand die Zahl 1754.
Aber war dieses Knochenweib identisch mit der Knochenfrau … beziehungsweise der dürren Frau? Der Artikel erwähnte keinen bestimmten Ort, an dem das Knochenweib angeblich sein Unwesen trieb. Es war auch nicht erkennbar, wer den Artikel verfasst hatte. Lukas speicherte die Website und suchte weiter. Es gab in verschiedenen Kulturkreisen Mythen von Wesen, die Kinder erschreckten, raubten, töteten oder sogar fraßen. Ein weites Feld tat sich auf, Lukas stieß auf Hexen, Banshees, Dämonen, Ghule, Kobolde, Nachtkrapp und Nachtgiger, den Sandmann, die Baba Jaga und den amerikanischen Boogeyman … und dann, kurz vor fünf, gab er es auf. Das brachte ihn nicht weiter. Sicher war nur, dass die Angst um die Kinder in allen Kulturen Fabelwesen hervorgebracht hatte, die es auf ebendiese abgesehen hatten. Und mit einigen dieser Schreckgestalten wurde den Kindern gedroht, wenn sie nicht brav waren, wenn sie nicht folgen wollten. Lukas erinnerte sich an eine Szene aus seiner Kindheit. Er war bei einem Klassenkameraden zu Besuch und dessen Urgroßmutter hatte gesagt, sie sollten vor Anbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein: „Sonst holen euch die Nachtkrappen”. Die Frau war längst tot, ihre Drohung aber hatte in Lukas' Gedächtnis überlebt.
Aber hier und jetzt ging es eben nicht um Fabelwesen, es ging um etwas Reales, um etwas, das tötete, das Jagd machte. Vielleicht machte dieses Wesen ja nur deshalb Jagd auf Kinder,
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