Die Knochenfrau
durchquerte den Garten und kletterte über den rostigen Drahtzaun. Das knirschende Geräusch, das der alte Zaun beim Niederdrücken machte, war unangenehm und erschreckend laut in der Morgenstille. Es erinnerte an Metall auf einer Schiefertafel.
Lukas sah sich um und ging hinein in den Wald. Er war gespannt, was ihn erwarten würde. Als er zehn Minuten auf dem schmalen Pfad gelaufen war, der zu der Schale mit dem Blut führte, da sah er einige Meter vor sich etwas Dunkles auf dem Waldboden. Er ging näher heran und das Ding war ein Streifen Isolierband, das Isolierband, mit dem er am Abend zuvor die Digitalkamera befestigt hatte. Lukas hob das etwa einen Meter lange Stück auf und sah es sich an, es war unversehrt, nicht gerissen oder gar zerfetzt. Auf der Unterseite klebten Kiesel, kleine Blätter, Tannennadeln und ein mit den Beinen strampelnder Käfer.
Lukas befreite das Insekt, legte das Band zurück auf den Boden und lief weiter. Er kam zu dem Baumstumpf, auf den er die Schale mit dem Blut gestellt hatte und sie war noch da, die Schale. Und neben der Schale … Lukas wurde kalt, als er es sah … stand die kleine Digitalkamera. Sie stand einfach nur da, völlig unversehrt, mit der Linse zu ihm. Lieber hätte er sie zerschmettert auf dem Boden gefunden. Lieber hätte er es mit einem wütenden Tier zu tun gehabt, als mit einem intelligenten Wesen, das einfach das Klebeband entfernt und die Kamera neben die Schale stellt. Als ob es ihm sagen wollte: Sie gehört dir, nimm sie wieder mit. Solche Tricks funktionieren bei mir nicht.
Lukas schaute in die Schale und er sah das, was er erwartet hatte. Sein Blut war nur noch ein schwarzer Klumpen. Genau das Zeug dass er im Haus der Schneiders gefunden hatte, das gleiche Aussehen und derselbe faulige Geruch. Er drehte den Kopf weg, nahm die Kamera in die Hand und hörte das leise Klicken des Verschlusses. Der Akku hatte durchgehalten, das Intervallprogramm lief noch, die Kamera löste immer noch aus. Er schaltete das Gerät aus und öffnete das Fach für die Speicherkarte. Sie war noch an Ort und Stelle und Lukas lächelte. In ihm wuchs die Hoffnung … Vielleicht ist ja doch etwas auf der Karte … ein Bild von ihr, ein verdammter Beweis ihrer Existenz .
Lukas steckte die kleine Karte zurück in die Kamera und die Kamera in den Rucksack. Dann lauschte er einige Minuten … nichts zu hören. Wenn sie in der Nähe war, dann verhielt sie sich ruhig. Er sah sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen, machte sich darauf gefasst, gleich wieder sein Handy klingeln zu hören … so wie gestern auf dieser Lichtung, nachdem er sich dieses von Maden bevölkerte Stück Darm angesehen hatte.
Aber das Handy klingelte nicht, da waren nur die Geräusche des Waldes. Irgendwo, hunderte von Meter, entfernt, brach ein Ast und stürzte auf den Boden. Ein erschrockener Vogel schrie auf.
Lukas wartete zehn Minuten und machte sich dann auf den Weg zurück zum Haus der Schneiders. Als er aus dem Wald trat, da blendete ihn die Morgensonne. Vielleicht war dieser Tag ja ein guter Tag … ein Tag, der irgendetwas Neues brachte. Er konnte es nicht erwarten, sich die Bilder anzuschauen.
Eine Dreiviertelstunde später saß Lukas vor seinem Laptop und wusste nicht so recht, ob er zufrieden oder enttäuscht sein sollte. Er hatte sich durch fast zweitausend Bilder gescrollt, die meisten davon furchtbar verrauscht und viel zu dunkel. Nur die ersten 200 waren halbwegs richtig belichtet, die nächsten 1100 waren zu dunkel und die letzten Bilder waren wiederum total überbelichtet. Auf ihnen war nur wenig zu erkennen. Rund 1600 Bilder zeigten den Ausschnitt, den Lukas am Abend zuvor gewählt hatte. Dann veränderte sich der Bildwinkel, das war der Moment, in dem wer oder was auch immer das Klebeband entfernt hatte. Es folgten zwei Bilder, bei deren Aufnahme die Linse leicht verdeckt war. Als hätte jemand – oder etwas – einen Finger davor. Es fehlte einfach ein Teil des Bildes, da war nur Schwarz. Als nächstes kam ein Bild, das Lukas nicht einordnen konnte. Es zeigte eine gleichmäßig dunkle, graubraune Fläche … möglicherweise ein unscharfes Stück Waldboden. Die restlichen Bilder zeigten den Ausschnitt, den die Kamera aufgenommen hatte, als sie neben der Schale mit dem Blut auf dem Baumstumpf stand. Und auf den letzten zwei Bildern sah Lukas sich selbst, wegen der Überbelichtung nur schemenhaft. Er näherte sich der Kamera und streckte seine Hand nach ihr aus. Das einzige Wesen, das er mit
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