Die Knochenfrau
Kapuzenpullis hoch und klopfte auf seinem linken Unterarm herum (das hatte er in Filmen gesehen, dieses Herumklopfen), bis tatsächlich ein Geflecht bläulicher Adern hervortrat. „Was für eine Scheiße”, wiederholte er. Einige Sekunden starrte Lukas auf die blasse und fast haarlose Haut seinen Unterarms, dann schob er die Fixerausrüstung beiseite und ging nach seiner Pizza sehen. Die drei Minuten, die das Fertigprodukt noch brauchte, überbrückte er, indem er am Küchentisch saß, aus dem Fenster schaute und sein Auto bewachte. Vielleicht würden die Jugendlichen die Sache ja vergessen, ihm nicht die Reifen abstechen. Oder sie würden ihn gleich bei der Polizei anzeigen … wegen Körperverletzung. Der Dicke, dem Lukas eins auf die Nase gegeben hatte, war wahrscheinlich noch nicht einmal volljährig. Kurz überlegte Lukas, selbst zur Polizei zu gehen und die Angelegenheit zu klären … vielleicht mit Nadine. Aber da legte die Eieruhr los und Lukas balancierte die Pizza aus dem Ofen. Sie schmeckte eher fad, aber irgendetwas musste er ja essen. Dazu trank er Orangensaft.
Als Lukas Teller und Besteck abgespült hatte, da war es kurz vor sechs. Er ging ins Wohnzimmer und sah sich die Instrumente an, die er auf dem Nachttisch verteilt hatte. Er nahm eine der Spritzen in die Hand, verzog das Gesicht und sah sie sich dann doch genauer an. Okay … wenn er sie mit Zeigefinger und Mittelfinger hielt, dann konnte er mit dem Daumen den Kolben herausziehen. So würde das gehen. Aber musste es überhaupt sein? Dieses verdammte Biest hatte sich gerade erst ein Kind geschnappt und den Aufzeichnungen Herrn Schneiders zufolge würde es nun eine Weile dauern, bis es … oder sie? wieder zuschlug. Alle zehn Jahre ungefähr, nur alle zehn Jahre, zehn Jahre Zeit. Lukas verbot es sich, angesichts des Todes eines Kindes Freude zu empfinden. Aber der Tod gab ihm Zeit … Zeit für was? Dieses Ding, das sein Bruder als „dünne Frau” bezeichnet hatte, zu finden? Es umzubringen? Es zu vertreiben? Lukas legte die Spritze weg, stand auf und suchte sich Stift und Zettel. Er notierte sich, was er über den Feind wusste. Viel war es nicht:
Sie tötet Kinder. Etwa alle sieben bis zehn Jahre.
Sie kann Leuten etwas vorgaukeln … Geräusche und Bilder. Damit lockt sie Kinder an und damit hat sie die Schneiders gequält.
Sie ist alt, die Erzählungen reichen Jahrhunderte zurück.
Sie lässt sich anscheinend durch Blutopfer ruhig stellen. Zumindest glaubten die Schneiders daran.
Sie ist ein materielles Wesen, kein Gespenst, kein böser Geist, auch keine Halluzination.
Sie ist nicht allmächtig. Mein Bruder konnte ihr entkommen.
Und zuletzt, nach einigen Sekunden Zögern schrieb Lukas:
Sie weiß, dass ich wieder hier bin. Ich bin mir sicher, dass sie auf meine Anwesenheit reagiert hat. Ich glaube, dass ich den Hund der Schneiders gesehen habe, der seit Jahren tot ist. Und vorhin hatte ich einen Anruf von meiner eigenen Telefonnummer.
Lukas unterstrich das Wort „sicher”, faltete den Zettel und schob ihn sich in die Hosentasche. Er ging in den Flur, schulterte seinen Rucksack und verließ das Haus. Das mit dem Blut musste warten.
Lukas ging um das Haus der Schneiders herum, ging durch den leeren Garten und bis zum Waldrand. Er kletterte über den Zaun und über den kleinen Wall, der den Wald von den Grundstücken trennte. Es roch nach Bärlauch und ein wenig nach Scheiße. Er stapfte den Waldrand entlang und kam an den Weg, den damals sein Bruder genommen hatte … und den vorhin er selbst gelaufen war. Sollte er diesen Weg noch einmal gehen, bis zu dieser Lichtung mit dem neongrünen Gras und dem zerrissenen Stück Gedärm? Was würde das bringen? Lukas stapfte weiter, ließ das Haus der Schneiders und sein ehemaliges Elternhaus hinter sich und entdeckte einen anderen Pfad, der sich in den Wald hinein schlängelte. Er folgte dem Pfad etwa zweihundert Meter, dann kam er nicht weiter. Nur noch dichtes Gestrüpp und Wolken kleiner Stechmücken. Irgendwo in der Nähe musste ein Bach sein, Lukas hörte es plätschern. Er blieb stehen, ignorierte die Angriffe der Mücken, sah sich um und musste einen Anflug von Verzweiflung unterdrücken. Wie verdammt sollte er in diesen Wäldern irgendetwas finden? Wie verdammt sollte er dieses Vieh aufspüren, das damals seinen Bruder angegriffen hatte? Er brauchte irgendeinen Anhaltspunkt, irgendeine Spur, irgendetwas, das ihn zu ihr führte. Lukas erschlug eine Mücke und machte sich auf den
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