Die Knochenfrau
Okay, also stärker und in einem steileren Winkel. Lukas setzte die Spritze erneut an … Scheiße! Scheiße! Scheiße! … atmete tief durch und stach zu. Die Nadel durchdrang die Haut, aber es kam kein Blut. Am liebsten hätte Lukas sich das Ding aus dem Arm gerissen und es gegen die Wand geworfen. Er versuchte, mit dem Daumen den Kolben zurückzuziehen, schaffte es aber nicht. Irgendwie war das verdammte Ding blockiert. Also zog er sich die Nadel aus dem Arm und plötzlich kam Blut, nicht viel, nur ein kleiner, glänzender Tropfen. Okay, Blut gab es in diesem Arm … also zweiter Versuch. Lukas probierte einige Male, mit dem Daumen den Kolben zu ziehen und als er dachte, nunmehr genug Übung zu haben, da stach er sich ein zweites Mal die Kanüle in die Vene. Seltsamerweise funktionierte es jetzt, er nahm sich tatsächlich fünfzig Milliliter Blut ab … und wusste nicht, wohin damit. Er hatte die Schale in der Küche vergessen. Schimpfend, schnaufend und mit der Nadel im Arm ging er sie holen, setzte sich wieder aufs Bett und machte weiter. Er schaffte es, sich 300 Milliliter Blut abzunehmen. Sechsmal schraubte er die Spritze von der Kanüle, drückte das Blut in die Schale, schraubte die Spritze wieder zusammen, zog den Kolben und dann ... dann kam plötzlich nichts mehr und Lukas bekam es mit der Angst zu tun. War irgendetwas mit der Vene? Hatte sich irgendeine Verstopfung gebildet? War die Nadel verrutscht? Hatte er vielleicht die ganze Vene kaputt gemacht? Er zog sich die Nadel aus dem Arm, versaute das weiße Betttuch, drückte eine Kompresse auf die Wunde und blieb einige Minuten so sitzen. Er fühlte sich nicht schwach, 300 Milliliter Blutverlust machen einem erwachsenen Mann nichts aus. Aber das wusste Lukas nicht und die 300 Milliliter sahen eben doch nach viel aus. Er achtete dermaßen auf Zeichen der Schwäche, dass er sich tatsächlich schwach fühlte. Angeekelt schob er die Schale mit dem glänzenden, metallisch riechenden Blut zur Seite, klebte sich die Kompresse mit einem Pflasterstreifen fest und versteckte die ganze Bescherung unter seinem Ärmel. In Gedanken wiederholte er immer denselben Satz: Was für eine Scheiße … Was für eine Scheiße … Die 300 Milliliter mussten reichen, noch einmal würde er sich keine verdammte Nadel in den Arm stechen. Überhaupt wusste er ja nicht, ob das Ganze wirklich etwas brachte.
Lukas trank ein Glas Milch und empfand Dankbarkeit dafür, dass die Milch nicht rot war. In einer der Küchenschubladen fand er eine Rolle Frischhaltefolie, riss einen Streifen ab und verschloss damit die Schale mit dem teuer erkämpfen Blut. Er zog sich seine Jacke an, schulterte den Rucksack und ging hinaus in die Abendstille. Er durchquerte den Garten, kletterte vorsichtig über den Zaun und fand den kleinen Pfad in den Wald. In der einen Hand hielt er das Messer, in der anderen die Schale mit dem Blut. Er musste sich eingestehen, dass er sich plötzlich verdammt lebendig fühlte, wie er da mit seinem frisch gezapften durch den halbdunklen Wald lief.
Als er die Schale auf einem Baumstumpf abgestellt hatte, da stand Lukas einige Minuten nur da und lauschte. Es war still, fast zu still. Seine Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt. Ganz behutsam, fast ohne ein Geräusch zu verursachen, nahm er den Rucksack ab, öffnete den Verschluss und zog seine Digitalkamera heraus. Er schaltete sie ein, wählte den manuellen Modus, stellte die Empfindlichkeit auf 3200, die Blende auf 2,4, die Verschlusszeit auf ¼ und die Entfernung auf 4 Meter. Das Gerät hatte einen Intervallmodus, Lukas stellte ihn so ein, dass die Kamera alle zwanzig Sekunden ein Bild aufnahm. Wenn er also in elf Stunden wiederkam, dann würden fast 2000 Bilder auf der 4GB-Speicherkarte sein und vielleicht waren unter diesen Bildern ja einige, die anders waren als der Rest.
Lukas nahm das Isolierband aus dem Rucksack und fixierte die kleine Kamera damit an einem Ast, geschätzte vier Meter von der Schale mit dem Blut entfernt. Er kontrollierte den Bildausschnitt, schaltete den Monitor aus und startete die Intervallaufnahmen. Das Klicken des Verschlusses war sehr leise … hoffentlich leise genug.
*
Lukas war um viertel nach sechs wach, um halb sieben klingelte der Wecker und um 6.31 Uhr stand er auf. Er schlüpfte in seine Klamotten, schulterte den Rucksack und ging hinaus in die Morgenkälte. Auf dem Gras glänzte der Tau und es war völlig still, ab und zu machte ein Vogel Vogelgeräusche. Lukas
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