Die Knochenfrau
derjenige, der nicht von hier war, der Fremdling aus dem Osten. Allein die Tatsache, dass seine Familie zugezogen war, hatte immer gereicht, ihn abzulehnen. All dies war lange her, bald zwanzig Jahre … und trotzdem war es immer noch das Gleiche. Wie hatte Yvonne gesagt? Jede Gemeinschaft braucht jemanden, auf den man runter schauen kann … oder so ähnlich. Vielleicht war es ja wirklich so. Nur dass er abgehauen war und das Pack jetzt jemand Neues hatte – Yvonne eben.
Lukas fuhr schlechtgelaunt zurück zum Haus der Schneiders. Die Gesichter der Leute am Straßenrand kamen ihm dumm und brutal vor. Dieser kleine und idyllisch gelegene Ort erschien ihm als eine einzige große Idiotenfabrik.
*
Lukas verbrachte den Nachmittag damit, im Internet nach Berichten von Wesen zu suchen, die Kinder anfielen. Durch das, was er fand, wurde seine schlechte Laune noch verstärkt. Wieder einmal erwies sich das Internet als ein großer Haufen Dreck, in dem nur ab und zu eine Perle steckt.
Lukas fand wacklige Amateurvideos, auf denen angeblich bisher unentdeckte Tierarten zu sehen waren, meistens Bigfoots. Er las sich durch Berichte von Banshees, Hexen und Wiedergängern, die ihm nicht viel brachten. Das war alles nicht das, was er suchte. Und als ihn schließlich eine Seite, die sich vordergründig mit Fabelwesen befasste, auf eine andere Seite mit Snuff-Videos und Kinderpornographie weiterleitete, da gab er es angewidert auf, klappte den Laptop zu und kochte sich eine Tasse Kaffee.
Als er die bittere, ölig glänzende Brühe getrunken hatte, da klappte Lukas seinen Laptop wieder auf und suchte in verschiedenen Internetshops nach Nachtsichtgeräten. Gute Geräte kosteten ab fünfhundert Euro, Lukas überlegte ernsthaft, sich solch ein Gerät zu bestellen. Wenn dieses Wesen, das die Schneiders „Die dürre Frau” nannten, in der Nacht vom Freitag auf den Samstag tatsächlich in der Nähe des Hauses gewesen war, dann konnte er sich doch einfach auf die Lauer legen. Irgendwann würde das Ding wieder auftauchen, es wusste ja, dass er da war und es hatte schon auf ihn reagiert. Und mit dem Nachtsichtgerät würde er es sehen, wenn es aus dem Wald kam. Und vielleicht konnte er ja auch irgendwie ein Gewehr organisieren, so ein Jagdgewehr, wie der Vater des toten Jungen eines hatte. Und dann, wenn es dann soweit war …
Lukas fiel ein, dass er in seinem Leben noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten hatte. Auch hatte er nicht den blassesten Schimmer, wo er solch eine Waffe herbekommen sollte. Und außerdem … verdammte Scheiße! … außerdem war es jetzt zwei Tage her, dass er diese fliegende Spinne gesehen hatte, dass er sich vor ihrer blöden kleinen Show erschreckt hatte. Vielleicht passierte ja überhaupt nichts mehr … tagelang, wochenlang, monatelang … jahrelang, verdammte Scheiße! Vielleicht ließ sie ihn einfach schmoren, die dürre Frau. Andererseits: Sie wusste, dass er da war. Sie wusste, dass er die Sache mit dem Blut fortführte, die ja vielleicht doch irgendeine Wirkung hatte. Schon mehrmals hatte sie ihm etwas vorgegaukelt. Lukas konnte nur hoffen, dass es wieder passierte … und dass es bald passierte.
Das Nachtsichtgerät bestellte Lukas vorläufig nicht, stattdessen ging er unter die Dusche. Er setzte sich in die Wanne, schloss die Augen und ließ sich von warmem Wasser berieseln. Es war ihm, als wasche das warme Wasser den Schmutz der Welt von ihm ab. Da draußen gab es ein Wesen, das Kinder zu sich lockte und umbrachte. Es gab da draußen engstirnige, dumme Menschen, die alles Fremde verabscheuten. Es gab sogar Menschen, die sich an Kinderpornos aufgeilten oder sich im Internet ansahen, wie jemand umgebracht wurde … das alles gab es da draußen. Lukas aber saß im warmen Regen des Duschkopfes, durch das gleichförmige Prasseln des Wassers und durch seine geschlossenen Augenlider von alldem getrennt.
Fast eine Stunde saß Lukas in der Wanne, fast wäre er sitzend eingeschlafen. Den Abend verbrachte er dann vor dem Fernseher. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, noch einmal hinaus in die Wälder zu gehen. Aber er brachte einfach nicht die nötige Menge an Zuversicht zusammen und so sah er sich einen Mist nach dem anderen an und blieb schließlich beim Tatort hängen. Sowieso hatte es wieder angefangen zu regnen. Hoffentlich stellen sie mir nicht den Strom ab, jetzt wo Herr Schneider tot ist. Ich müsste mich darum kümmern, ich müsste mich um so vieles kümmern.
Lukas legte die Fernbedienung
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