Die Knochenfrau
Jungs den Hügel hoch, einen davon kannte Lukas. Das war der große, untersetzte Typ, dem er vor vier Tagen auf die Nase gehauen hatte. Der Dicke lief ein wenig hinterher, ein Kleinerer führte den Trupp an. Er hatte nach oben gegelte Haare, die ihn größer aussehen lassen sollten. Fast eine Art Irokesenschnitt. Die vier Typen bauten sich vor Lukas auf.
„Alles klar, Kollege?”, fragte der mit den gegelten Haaren.
„Alles klar.”, antwortete Lukas.
Einige Sekunden standen sie nur da.
„Und was jetzt?”, fragte Lukas. Er hatte sich gut im Griff, seine Stimme klang stabil.
„Was denkst du denn, was jetzt passiert?”, fragte der Junge mit dem Gel. Er sprach den Dialekt der Gegend.
„Keine Ahnung, das hängt von euch ab. Wenn es nur nach mir geht, dann hau ich jetzt einfach ab und wir lassen uns alle gegenseitig in Ruhe.”
Wieder der Kleine mit der Gelfrisur:
„Ist ein bisschen verdächtig, wenn einer durchs Dorf schleicht, der nicht von hier ist … ist ja gerade erst ein kleiner Junge ermordet worden.”
Lukas hatte wenig Lust, sich vor diesen Typen zu rechtfertigen. Die Jungs waren ja noch nicht einmal volljährig. Trotzdem sagte er:
„Ich bin erst in Rothenbach angekommen, als das mit dem Jungen schon passiert war. Und was ich hier im Dorf mache, das geht euch nichts an. Wie gesagt: Ich hau jetzt ab und wir lassen uns alle schön gegenseitig in Ruhe.
„Wir könnten dir auch den Arsch versohlen.”, sagte einer der anderen Jungs. Ein schlanker aber kräftiger Typ mit – so sah es für Lukas zumindest aus – gezupften Augenbrauen.
„Ihr könntet es versuchen”, antwortete Lukas.
Einige Sekunden Schweigen, Lukas achtete auf jede Bewegung. Die Jungs hielten den Abstand und langsam hatte Lukas den Eindruck, dass sie nicht den Mumm dazu hatten.
„Vielleicht versuchen wir es ja.”, sagte der Typ mit den schmalen Augenbrauen. Spätestens jetzt war sich Lukas sicher, dass sie Schiss vor ihm hatten. Diese Typen waren sechzehn, höchstens siebzehn. Halbe Kinder noch.
„Also Leute, hört mal zu. Ich hab gerade einen ziemlich beschissenen Tag und eine ganze Menge Wut im Bauch. Wenn ihr mich also angreift, dann kommt mir das sogar ganz recht. Vielleicht könnt ihr mich zu viert fertigmachen, aber bis ihr mich am Boden habt, habe ich mindestens einem von euch den Kiefer oder zumindest die Nase gebrochen, da könnt ihr von ausgehen.”
Die vier Jugendlichen rührten sich nicht. Sie würden nicht auf Lukas losgehen … einfach abhauen konnten sie natürlich auch nicht. Wie würde das aussehen?
„Okay Jungs, ihr macht jetzt ein bisschen Platz und ich geh runter Richtung Sportplatz. Und wenn einer von euch auf die Idee kommt, nach mir zu schlagen, dann fließt hier sofort Blut. Wie gesagt: Ich hab gerade einen richtig beschissenen Tag und es würde mir gut tun, jemandem die Fresse einzuschlagen.”
Lukas lief auf die Jugendlichen zu und sie machten gerade genug Platz, um ihn durchzulassen. Sie waren verdammt nahe und Lukas war bereit, sofort hart zuzuschlagen, wenn es denn sein musste. Aber sie ließen ihn gehen. Als er wieder unten am Sportplatz war, da rief einer ihm hinterher. „Verpiss dich, Spasti!” Das kam von dem Typen mit dem Gel im Haar. Und ein Anderer: „Dein Tag wird noch viel beschissener, Schwanzlutscher!”
Lukas zwang sich, weiter geradeaus zu gehen. Er musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen. „Geh zurück! Geh zurück! Schlag den Pissern ihre hohlen Dorfschädel ein!“ Hank, Lukas' streitlustige Seite, von der er eben noch geglaubt hatte, sie schlafe tief und fest, wollte verdammt nochmal Blut sehen … sofort und literweise: „Hol das Messer aus dem Rucksack und dann tief hinein damit in die Bäuche!“ Lukas ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen, zwang sich zum Weitergehen.
Umso weiter er sich vom Sportplatz entfernte, umso ruhiger wurde Lukas. Die heiße Wut, die eben noch in seinem Kopf schwappte, sank hinunter in seinen Bauch und verwandelte sich in ein diffuses, erträgliches Unbehagen. Er erinnerte sich an früher. Immer hatte er sich in diesem verdammten Rothenbach als Außenseiter gefühlt. Und es war eben nicht nur ein verdammtes Gefühl! Obwohl er Deutscher war, obwohl seine Familie auch in der Sowjetunion die deutschen Feste gefeiert und deutsch gekocht hatte und obwohl verdammt nochmal jeder aus seiner Familie besser Deutsch sprach als diese Eingeborenen mit ihrem dumpfen, unverständlichen Dialekt, war er für sie immer nur der Russe,
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