Die Knochenkammer
aushalten?« Selbst heutzutage war der Gedanke an diesen feuchten, dunklen Ort abschreckend. Wie menschenunwürdig, sie vor mehr als einem Jahrhundert dort unterzubringen, als es noch keine modernen Sanitäreinrichtungen, Klimaanlagen und kein elektrisches Licht gegeben hatte!
»Die Antwort liegt auf der Hand: Nicht gut. Die Leute kamen, um die dunkelhäutigen Kuriositäten zu bestaunen. Journalisten und Schaulustige krochen buchstäblich auf dem Gehsteig entlang, um durch die Gitter der Kellergeschossfenster einen Blick auf sie zu werfen.«
»Haben sie das Museum jemals verlassen?«
»Ja, zwangsweise. Sie wurden krank. Sie ertrugen die Hitze in New York City nicht. Sie bekamen Erkältungen und fünf von ihnen eine Lungenentzündung. Einer bekam Tuberkulose. Sie landeten alle sechs als Patienten im Bellevue Hospital.
Als sich ihr Gesundheitszustand besserte, wurden sie entlassen und wieder ins Museum gebracht. Jemand hatte die weise Voraussicht, ihnen im fünften Stock, wo der Hausmeister untergebracht war, ein bequemeres Quartier herzurichten.«
»Waren sie -?«
»Innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Ankunft waren zwei der Erwachsenen tot. Einer davon war Qisuk, der Anführer, der seinen kleinen Jungen als Waisen zurückließ. Allein in der Fremde, ohne Familie oder Freunde. Das Kind sprach kein Englisch, und nur drei weitere Überlebende sprachen seine Muttersprache.«
»Kam den Funktionären denn nicht in den Sinn, die Überlebenden, vor allem die Kinder, nach Grönland zurückzubringen?«, fragte ich.
»Das Eis und das Wetter machten es mitten im Winter unmöglich.«
»Hat sich denn keiner um sie gekümmert?«
»Doch, natürlich. Einer der Nettesten war ein Museumsangestellter namens William Wallace. Ich glaube, er war der Hausverwalter des Naturkundemuseums. Er und seine Frau nahmen den kleinen Minik bei sich auf. Er wurde Teil der Familie. Er bekam Nachhilfeunterricht in Englisch, ging mit dem Sohn der Wallaces zur Schule, wurde ein ziemlich guter Sportler und ein relativ glückliches Kind. Aber innerhalb eines Jahres waren alle fünf Eskimos, die mit ihm nach New York gekommen waren, tot.«
»Was erzählten sie dem armen Jungen über seinen Vater?«
»Die Museumsleute hatten von Peary sehr viel über die Begräbnisrituale der Eskimos gelernt. Sie beschlossen, dass es Minik zuliebe am besten wäre, die traditionellen Begräbnisfeierlichkeiten seines Stammes zu reproduzieren. Der Junge war gerade acht Jahre alt geworden, alt genug, um zu verstehen, was vor sich ging, und in Erinnerung zu behalten, wie würdevoll sein Vater beerdigt wurde.«
»Was hat man getan?«
»Nun, Mr. Wallace und einige wissenschaftliche Mitarbeiter versammelten sich in einem schönen, abgelegenen Innenhof hinter dem Hauptgebäude. Laut Berichten wurde die Trauerfeier bei Sonnenuntergang abgehalten.«
»Der Junge war mit dabei?«
»O ja. Und wie es in dem Dorf meines Vaters Tradition war, sah er dabei zu, wie die mit Tierhäuten bedeckte Leiche, eine geschnitzte Maske über dem Kopf, aus dem Museum getragen wurde. Man legte den toten Stammesführer auf ein paar Steine und schichtete über ihm noch mehr Steine zu einem Hügel auf.«
Clem begleitete ihre Erzählung mit lebhafter Mimik und Gestik. »Dann legte man sein Lieblingskajak und seine Werkzeuge neben ihm aus. Eine sehr beeindruckende Zeremonie, die dem jungen Minik zeigen sollte, welchen Respekt alle vor seinem Vater hatten. Zum Abschluss hinterließ der Junge sein Zeichen auf dem Grab.«
»Was meinen Sie mit >sein Zeichen«
»Noch eines von unseren Ritualen. Ein Familienmitglied macht ein Symbol vor den Steinen, in Richtung des Zuhauses der nächsten Verwandten des Verstorbenen. Es hindert den Geist des Toten daran, zurückzukommen und die Lebenden zu verfolgen.«
»Und Minik hat das getan?«
»Es hat auf den Jungen ziemlichen Eindruck gemacht. Er wachte hier in diesem fremden Land über das Begräbnis seines Vaters, das ähnlich war wie die Begräbnisse der großen Jäger, die er in seinem Heimatland gesehen hatte.«
»Coop liebt Happy Ends. Sagen Sie ihr, dass das Leben für den Jungen besser wurde, in Ordnung?«
»Wurde es. Es ging ihm eine Weile bei der Wallace-Familie recht gut. Und weil Mr. Wallace im Museum arbeitete, besuchte ihn Minik oft dort. Oben im vierten Stock, wo man die Eskimoartefakte studierte und katalogisierte.«
»Es überrascht mich, dass er überhaupt dort sein wollte.«
»Ich bin mir sicher, dass es ihm großen Spaß gemacht hat.
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