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Die Knochenkammer

Titel: Die Knochenkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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erschienen waren, vor allem wenn ihre U-Bahn-Linie unter dem World Trade Center hindurchführte. Staatsanwälte, die in der U-Bahn festsaßen oder an Brücken und Tunneln aufgehalten wurden, riefen an und boten ihre Hilfe an, ohne zu wissen, wann oder wie sie jemals ihre Büros erreichen würden.
    »Hey, Alex, hier ist Mercer. Was, zum Teufel, machst du dort?«
    Er war erst vor einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden und erholte sich von einer Schusswunde, die ihn fast das Leben gekostet hätte. »Was hier vor sich geht, lässt sich nicht beschreiben. Gott sei Dank bist du nicht im Einsatz. Hast du versucht, Mike zu erreichen?«
    Bevor er mir antworten konnte, hörte ich erneut Schreie von der Straße herauf und sah aus dem Fenster. »O mein Gott! Er stürzt ein! Mercer, der Südturm stürzt ein!« Die Implosion schien in Zeitlupentempo abzulaufen, und mir wurde speiübel bei dem Gedanken, dass Tausende von Menschen unter Tonnen von Beton und Stahl lebendig begraben wurden.
    »Mike ist irgendwo dort unten. Er ist heute erst um sechs Uhr früh nach Hause gekommen. Seine Mutter rief ihn an, als sie die Nachricht von dem ersten Flugzeug hörte. Wenn sie sich keine Sorgen gemacht hätte, hätte er die ganze Sache verschlafen. Er will, dass du dort verschwindest. Sofort!« Mercer wurde lauter, um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich habe den Befehl, dir so lange auf die Pelle zu rücken, bis du das Gebäude verlässt.«
    Ich schloss die Augen und hoffte verzweifelt, dass Mike nicht schon dort gewesen war, als der zweite Turm zusammenkrachte. Die Hälfte der Kids, mit denen er aufgewachsen war, waren Polizisten oder Feuerwehrleute, und er würde ihnen in den Schlund der Hölle folgen, falls er glaubte, auch nur einen von ihnen retten zu können.
    Ich brauchte mich nicht mit Mercer zu streiten. Die Telefonleitung war plötzlich tot. Ich sah zu den anderen Schreibtischen und erkannte an den unbeleuchteten Konsolen, dass die Telefone nicht mehr funktionierten. Die Antennen unserer Telefonfirma mussten Teil des Kommunikationszentrums gewesen sein, das sich auf dem Dach des World Trade Center befunden hatte.
    Rauch trieb durch die Gänge. Der milde Wind blies jetzt in unsere Richtung und trieb Ruß, Asche und einen beißenden Geruch vor sich her. Ich ging von Büro zu Büro, schloss die Fenster und hustete wegen des giftigen Gemischs aus pulverisiertem Beton und brennendem Treibstoff, das in den Augen und im Hals brannte.
    Ich ging über den Hauptflur, der wie ausgestorben war, zu Battaglias Flügel. Drei seiner fünf Assistenten waren bei ihm; die anderen zwei hatten es nicht geschafft, ins Büro zu kommen. Sie arbeiteten einen Katastrophenplan für den Rest der Woche aus; sie wussten, dass wir uns im Krieg befanden und es unmöglich sein würde, in den nächsten Tagen das übliche Tagesgeschäft weiterzuführen. Zu fünft arbeiteten wir fast zwei Stunden lang einen Plan aus. Bis auf die Tatsache, dass hin und wieder einige der Handys funktionierten, waren wir von der Umwelt völlig abgeschlossen.
    Als ich kurz vor ein Uhr nachmittags in meinen Flügel zurückkehrte, waren die Straßen unter mir gespenstisch ruhig und leer. An jeder Ecke standen verlassene Imbisskarren, und auf dem Behördenparkplatz parkten die Streifenwagen von Polizeibeamten, die zu Fuß nach Downtown gelaufen waren. Überall trieb Papier im Wind, und Asche fiel auf die Gehsteige und Straßen.
    Ich sah aus dem Fenster und zuckte beim Anblick des Himmels ohne die Türme zusammen. Was sagte man von Leuten, denen irgendwelche Gliedmaßen amputiert worden waren? Dass der fehlende Arm oder das fehlende Bein für immer wehtaten, eine Art Phantomschmerz. Auch uns würde es für immer schmerzen, wenn wir am Himmel nach diesen Türmen Ausschau hielten und an die Tausende von Menschen dachten, die ihre Liebsten nie wiedersehen würden.
    Um vier Uhr kam Rose vorbei, um mir zu sagen, dass Battaglia zu einem Treffen mit dem Bürgermeister und dem Gouverneur aufgebrochen war. Das Polizeipräsidium hatte einen Polizisten herübergeschickt, der darauf bestand, dass wir alle nach Hause gingen. Die Luftqualität hatte sich so verschlechtert, dass uns niemand garantieren konnte, uns später noch sicher evakuieren zu können.
    Ich nahm ein Paar alter Halbschuhe aus einem Aktenschrank, schloss das Büro ab und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Lobby. Vier uniformierte Revierpolizisten bewachten den Eingang und verteilten Gesichtsmasken an jeden, der das

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