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Die Knochenkammer

Titel: Die Knochenkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Rest der Nacht saß ich vor dem Fernseher und vergaß ganz, zu essen und zu trinken, während ich immer und immer wieder sah, wie die Türme einstürzten, wundersame Geschichten von Überlebenden hörte, denen es gelungen war zu entkommen, und die verzweifelten Familien der Frauen und Männer sah, von denen man seit 8.46 Uhr morgens nichts mehr gehört oder gesehen hatte.
    Ich sah Jake auf MSNBC, der eine Außenübertragung vom Pentagon und später in der Nacht von den Stufen des Kapitols machte. Was erforderte es, um Nachrichtensprecher zu sein?, fragte ich mich. Ich hätte nie diese Story - oder auch weniger tragische - berichten können, ohne von Emotionen überwältigt zu werden.
    Um Mitternacht rief ich Mercer zum letzten Mal an diesem Abend an.
    »Hast du irgendetwas von Mike gehört?«
    »Deine Gebete sind auch in der Vergangenheit schon erhört worden, Alex. Versuch zu schlafen.« Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Vickees Cousine, die als Sekretärin für die Hafenbehörde arbeitete, seit dem Einschlag des zweiten Flugzeugs vermisst wurde. Vickee und Mercer hatten andere Sorgen als meine Ängste um Mike. Ich legte auf.
    Kurz nach zwei Uhr musste ich eingedöst sein. Das Klingeln der Türglocke weckte mich um halb fünf. Bis hierher hatte ich Nina die Geschichte bereits erzählt, also fuhr ich jetzt bei Mikes Ankunft fort.
    »Als ich aus dem Schlaf aufschrak, wusste ich, dass es Mike war. Die Portiers hätten niemanden durchgelassen, der kein enger Freund war. Als ich die Tür aufmachte, warf ich ihm die Arme um den Hals und legte meinen Kopf an seine Brust, bis er mich sanft wegdrückte.«
    Ich holte Luft und biss mir auf die Lippen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie er aussah. Man hätte nicht gewusst, dass seine Haare schwarz waren. Er war von oben bis unten mit Asche bedeckt. Auf seinen Chino-Hosen waren dunkle Flecken, die wie getrocknetes Blut aussahen. Ich bot ihm an, sich zu duschen, aber er weigerte sich. Er wollte nichts vom Ort des Geschehens abwaschen, als ob er heilig für ihn wäre. Er nahm mich an der Hand und führte mich ins Wohnzimmer. Er wollte nur reden.«
    »Aber genau das meine ich. War er damals nicht schon mit Val zusammen? Warum war er nicht zu ihr gegangen?«
    »Nun, damals wusste ich noch nicht einmal von Val. Er hatte mir noch nicht von ihr erzählt.«
    »Aber als du erfuhrst, dass sie seit dem Sommer zusammen waren, fandest du es da nicht auch komisch, dass er nicht bei ihr sein wollte?«
    »Ich, äh, ich glaube nicht, dass ich jemals darüber nachgedacht habe.«
    »Vielleicht weiß sonst niemand, wenn du Schwachsinn redest, aber ich tu’s.« Ich schwieg einen Augenblick. »Ich glaube, das hatte zweierlei Gründe. Ich glaube, niemand versteht, was ein Polizist für andere Menschen - für Fremde - auf sich nimmt, wenn man selbst keiner ist. Oder wenn man, wie in meinem Fall, ständig dabei ist. Denkst du, dass auch nur ein Anwalt, eine Person in einem Straßenanzug an jenem Tag auf die Türme zulief? Und was Val angeht, war sie den Großteil des letzten Jahres mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert gewesen. Mike hatte in diesen zwanzig Stunden so viel Tod gesehen, dass ich glaube, dass er es nicht über sich brachte, ausgerechnet mit ihr darüber zu sprechen.«
    »Bist du blind, was die dritte Möglichkeit angeht, Alex? Wollte nicht jeder in Amerika mit der Person, den Menschen zusammen sein, die ihm am wichtigsten waren? Kennst du jemanden, der nicht bei demjenigen sein wollte, der ihm am meisten bedeutete, und sich an ihn klammern wollte, als würde die Welt untergehen? Ich habe Gabe zu Jerry und mir ins Bett geholt und ihn die ganze Nacht im Arm gewiegt.«
    »Wenn ich’s dir sage, Nina, du bildest dir da was ein.«
    Sie wusste, dass sie mich nervte, und ging zur nächsten Frage weiter. »Hat er dir erzählt, wie es war, dort zu sein?«
    »Ja. Er redete stundenlang. Ich hatte die Explosion gesehen. Ich hatte den Tod gerochen. Ich hatte das ständige Sirenengeheul gehört. Das Erste, was er hörte, als er aus dem Auto stieg, waren die Schreie. Er hat noch immer Albträume. Glaub mir, du willst nicht hören, was er mir erzählt hat.«
    »Wo war er, als die Türme einstürzten?«
    »Als der Südturm einstürzte, war er im Treppenhaus des anderen Turms. Da war eine schwangere Frau, die vom achtundsiebzigsten Stockwerk nach unten lief. Eine Diabetikerin. Sie brach im zehnten Stock zusammen, und die anderen trampelten einfach über sie hinweg, also kroch sie an

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