Die Knochenkammer
neun Monate, seit dem elften September, sind schrecklich für ihn gewesen. Du bist ein Geschenk des Himmels, Val. Du warst so zerbrechlich, als er dich kennen lernte, und ich glaube, es gab ihm enorme emotionale Kraft, sich um dich zu kümmern, dich zu beschützen und gleichzeitig so viel innere Stärke aus deinem Lebensmut zu ziehen.«
»Jeder, den ich kenne, war von den Terroranschlägen am Boden zerstört.«
»Aber Mike war - nun, er bezeichnete es einmal als impotent. Es war eines der wenigen Male in seinem Leben, in denen er die Dinge nicht richten und die Übeltäter nicht fassen konnte. Dazu dann noch all die Schuldgefühle, überlebt zu haben. Die Tatsache, dass er mit dem Leben davonkam, während so viele andere starben.« Ich sagte ruhig: »Val, du warst jemand, der Hilfe brauchte, und er fühlt, dass er seinen Teil dazu beigetragen hat, dir zu helfen.«
Sie stand auf und drückte meine Hand. »Das hat er. Er will es nicht von mir hören, aber er hat mich davor bewahrt, in Selbstmitleid zu zerfließen. Ich kann euch nicht sagen, wie sehr ich ihn liebe.«
Nina stützte sich auf ihre Ellbogen. »Verdammt. Jetzt wo’s gerade anfängt, interessant zu werden. Du willst doch nicht etwa schon ins Bett gehen, Val?«
»Doch. All die frische Luft und das Fahrradfahren. Und ein bisschen zu viel Wein. Gute Nacht.«
Nina griff sich die Weinflasche, die auf einem Glastischchen stand, und leerte sie. »So was Blödes! Gerade als ich dachte, dass wir zum Sex kämen. Warst du noch nie neugierig? Ich wette, Mike Chapman ist ein fantastischer Liebhaber.«
»Vielleicht bist du schon zu lange verheiratet.« Ich zog eine Decke über meine Beine und nippte an dem Sancerre, nachdem ich noch eine Flasche aufgemacht hatte. »Machst du so etwas bei der Arbeit? Siehst du dir den Partner im Büro nebenan an und ziehst ihn in Gedanken aus, während er vor dir steht und Geschäftliches bereden will? Ich arbeite jeden Tag mit dem Mann zusammen. Ich träume nicht davon, wie es wäre, meine Beine um ihn zu schlingen und -«
»Unsinn. Vielleicht solltest du das. Wie war das damals mit deinem Vorgesetzten, als du bei der Bezirksstaatsanwaltschaft angefangen hast? Wie lange hat’s gedauert, bis er dir das Höschen auszog? Ungefähr eine Minute, als Gegenleistung für einen Abend im Yankee-Stadion, einen Hot Dog und ein Bier?« Sie lachte, als sie sich an die Story zu erinnern versuchte.
»Hör auf! Ich habe nie mit ihm geschlafen. Ich habe nur … nun …«
»Die ganze Zeit davon geträumt. Siehst du? Ich habe Recht.«
Ich hörte, wie Val oben aus dem Bad kam und die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich schloss.
Nina flüsterte mir zu: »Du hast mir versprochen, dass du mir erzählst, was letzten September passiert ist, wenn wir mal allein sind. Ich wollte nicht vor Val fragen.«
Jedes Mal, wenn Nina das Thema zur Sprache gebracht hatte, hatte ich versucht auszuweichen. Es war unmöglich, Zeuge des Anschlags auf das World Trade Center gewesen zu sein und ihn zu beschreiben, ohne den Schmerz dieses Vormittags noch einmal zu durchleben. Nina und ich hatten eine gemeinsame Freundin verloren, die in einem der Flugzeuge gewesen war, die in die Türme geflogen waren, und in unserer Trauer um Eloise war ich den Erinnerungen ausgewichen, die mich vom Augenblick des ersten Aufpralls an verfolgten.
Wie an den meisten Wochentagen war ich vor acht Uhr ins Büro gefahren und genoss die Stunde, bevor die Telefone zu klingeln anfingen und sich die Korridore mit Anwälten, Polizisten und Verbrechensopfern füllten. Mein Büro im achten Stock der Bezirksstaatsanwaltschaft ging nach Süden hinaus, was bedeutete, dass das Zimmer schon am frühen Morgen sonnendurchflutet war. Die Zwillingstürme standen nur zehn Blocks weiter südlich Wache, und ich konnte sie bei jedem Blick aus dem Fenster hinter den Wasserspeiern des sechs Meter entfernten Nachbargebäudes sehen.
Ich tippte gerade ein Memo am Computer, als das erste Flugzeug in den Turm raste. Ich hörte eine gewaltige Explosion, und die Glasscheiben hinter mir ratterten und vibrierten. Zu dem Zeitpunkt war nur noch eine weitere Person - Judy Onorato - auf meinem Stockwerk, der Chefetage der Prozessabteilung.
Ich stand auf und zog die Jalousien hoch, die ich zum Schutz vor der grellen Sonne heruntergelassen hatte. Ich nahm an, dass eine Autobombe explodiert war, da die Gerichtsgebäude - das Criminal Courts Building und das Bundesgericht auf der anderen Straßenseite - schon einmal Ziel eines
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