Die Knochenkammer
Anschlags gewesen waren. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich, weniger als zehn Blocks südwestlich von mir, ein schwarzes Loch nahe der Spitze des Nordturms klaffen sehen. Der Himmel war strahlend blau, so wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
Kurz darauf kam Judy in mein Büro gerannt. Sie hatte den Fernseher im Konferenzraum eingeschaltet, nachdem sie die Explosion gehört hatte. »Haben Sie’s gesehen? Ein Flugzeug ist ins World Trade Center geflogen.«
Wir gingen beide davon aus, dass es ein Unfall gewesen war, ein kleines Flugzeug, das vom Kurs abgekommen und gegen den Turm geprallt war. Als der Nachrichtensprecher meldete, dass es sich um einen großen Jet gehandelt hatte, wollten wir es immer noch nicht glauben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine ganze Boeing 767 von dem riesigen Gebäude verschluckt worden war.
Überall auf unserer Etage fingen die Telefone an zu klingeln. Ich ging an den Schreibtisch von McKinneys Sekretärin - weder sie noch McKinney waren schon im Büro -, da auf ihrer Konsole alle Durchwahlleitungen zusammenliefen.
Als Erstes rief der Sicherheitsdienst in der Lobby an, um mir mitzuteilen, dass sie das Gebäude absperren und niemanden mehr hereinlassen würden. Das fünfte Polizeirevier, das direkt neben der Bezirksstaatsanwaltschaft Richtung Osten lag, hatte die Evakuierung von allen Büros südlich der Canal Street angeordnet.
Der nächste Anruf kam von Rose Malone. »Battaglia ist hier. Er will sofort McKinney sprechen.«
McKinney war selten vor zehn Uhr an seinem Schreibtisch, und jetzt war es noch nicht einmal neun. »Er wird mit mir vorlieb nehmen müssen.« Mein Herz raste. Die Nachrichtenstationen brachten bereits Zeugenaussagen, wonach das Flugzeug absichtlich in den Turm geflogen sei.
»Alex? Ignorieren Sie den Evakuierungsbefehl! Wie viele Leute sind Sie dort drüben?«
»Nur zwei.«
»Wir sind Mitarbeiter einer Strafverfolgungsbehörde, keine Zivilisten. Wer hier ist, bleibt hier. Was auch immer die Polizei braucht, erledigen Sie es!«
Ich drehte mich um und sah durch das Fenster zu den Türmen. In dem Moment ging eine ungeheure Explosion durch den Südturm und sandte einen Feuerball in meine Richtung.
Ich ließ mich in den Schreibtischstuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Das Radio auf meinem Schreibtisch berichtete, was ich nicht hatte kommen sehen: Ein zweites Flugzeug war von Süden her in den Südturm geflogen und hatte die Explosion ausgelöst, deren Zeuge ich gewesen war.
Jetzt war auf der Straße nur noch das Geheul der Sirenen zu hören, eine kreischende Kakophonie, die aus allen Richtungen auf die Türme zuraste. Direkt unterhalb des Fensters auf der Centre Street spielten sich Szenen ab wie in einem FünfzigerJahre-Film über einen Atomkrieg. Horden von Männern und Frauen in Geschäftskleidung und mit Aktentaschen setzten sich Richtung Norden in Bewegung, manche gingen, andere fielen in Laufschritt.
Die Einzigen, die sich Richtung Süden bewegten, waren Menschen in Uniform. Ich wusste, dass jedes Feuerwehrauto in der Stadt und im Umkreis zu den Türmen gerast sein musste, als das erste Flugzeug einschlug. Jetzt rannten Hunderte von Polizeibeamten, die in der Bezirksstaatsanwaltschaft Dienst taten, Tausende von Polizisten, die im Polizeipräsidium tätig waren und alle uniformierten Gerichtspolizisten, die die Vorgänge in unserem Gebäude überwachten, zum World Trade Center. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, was sie dort vorfinden würden. Ich wusste nur, dass etwas in ihrem Kopf und in ihren Herzen diesen Menschen den Mut gab zu helfen, während alle, die keine Uniform trugen, in die entgegengesetzte Richtung flüchteten.
Ich fing an, einige Telefonate zu machen. Zuerst rief ich meine Eltern und meine Brüder an, um ihnen zu versichern, dass ich in Sicherheit sei. Als ich Jake endlich im Washingtoner NBC-Studio erreichte, wo er diese Woche Dienst hatte, scharte er gerade ein Team um sich, um zum Pentagon zu fahren. Ein weiteres Flugzeug war als Waffe eingesetzt worden. »Es ist wieder Bin Laden. Sie hätten den Mistkerl nach dem Attentat im Jahr 1993 endgültig aus dem Verkehr ziehen sollen. Wie wirst du dort rauskommen, Alex?«
»Mach dir keine Sorgen! Wir sind eine ganze Gruppe hier«, log ich. »Tu, was du tun musst, und ich ruf dich später wieder an.«
Die Telefonleitungen liefen heiß. Eltern und Ehegatten von jungen Anwälten und Anwältinnen riefen an, um herauszufinden, ob sie bei der Arbeit
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