Die Knochenkammer
die Seite und blieb regungslos sitzen. Sie wollte niemandem im Weg sein. Sie gab einfach auf. Ihre Kollegen brachten Feuerwehrleute dazu, ihr zu helfen. Mike lief ihnen ein paar Stockwerke weiter unten in die Arme und bot an, sie nach unten zu tragen. Er war gerade aus dem Treppenhaus gekommen und hatte sie in der Lobby abgesetzt, als der erste Turm einstürzte. Er hob sie wieder auf und blieb erst wieder stehen, als er sie zur Vesey Street hinaufgebracht hatte. Das Letzte, was er sah, waren die Feuerwehrleute, die die Treppe hinaufliefen, während er ihre Gesichter überflog, um zu sehen, ob er jemanden kannte.«
»Hat er - hat er viele Freunde verloren?«
»Ein Polizist, der sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hat? Er ging monatelang zu Beerdigungen und Gedächtnisgottesdiensten. Deshalb blieb er den Großteil dieser ersten Nacht vor Ort, half dabei, Leichen aus dem Geröll zu ziehen und hielt Nachtwache, falls unter all dem Schutt und der Asche noch jemand am Leben war.«
»Die Frau, von der du mir erzählen wolltest - ist es das erste Mal, seit du Mike kennst, dass er dir von ihr erzählt hat?«
Ich nickte. »Ja. Sie heißt Courtney. Das ist wahrscheinlich ein weiterer Grund, warum er nicht zu Val gehen wollte. Er wollte ihr nicht von seiner unerwiderten Liebe erzählen.«
»Wer war sie?«
»Sie waren zusammen aufgewachsen. Königin des Abschlussballs, eine gute Schülerin mit großen Träumen. Sie waren in der Highschool immer wieder mal ein Paar gewesen. Während seines dritten Studienjahrs an Fordham war sie wie verrückt hinter ihm her. Sie drängte ihn, Jura zu studieren, etwas aus sich zu machen und ihr all die schönen Sachen zu kaufen, die sie haben wollte. Erinnerst du dich, was ich dir über Mikes Vater erzählt habe? Er hat sechsundzwanzig Jahre lang bei der New Yorker Polizei gedient. Dann starb er, zwei Tage nachdem er seine Waffe und seine Dienstmarke abgegeben hatte, an einem massiven Herzinfarkt. Mike beendete das College, aber er vergötterte seinen Vater. Er legte die Aufnahmeprüfung ab und ging direkt nach der Collegeabschlussfeier an die Polizeiakademie.«
»Und diese Courtney?«
»Ließ ihn sitzen und brach ihm das Herz - so hat er es mir zumindest an jenem Morgen erzählt. Sie machte sich an einen seiner Mitbewohner ran, der später am Fordham Jura studierte und einen Job an der Wall Street bekam. Sie heiratete ihn fünf Monate nachdem sie Mike abserviert hatte. Großes Haus in Manhasset, drei Kinder, zwei Autos - all die materiellen Dinge, die sie wollte. Sie sagte ihm, dass sie nie einen Polizisten heiraten würde, dass sie nicht das Leben ihrer Mutter führen wollte. Nicht wegen der Gefahren oder der harten Arbeit und unberechenbaren Arbeitszeit, sondern weil sie ihrem Background, ihrem Milieu entkommen wollte.«
»Hattest du darüber Bescheid gewusst?«
»Nein. Ich habe Frauen gekannt, mit denen er befreundet war - alles sehr oberflächlich. Ich ging einfach davon aus, dass er mit dem Sport, dem Studium und seinen Freunden so viel zu tun hatte, dass es noch nie für eine ernsthafte Beziehung gereicht hatte.«
»Was ist passiert?«
»Courtney war an jenem Vormittag in die Stadt gekommen, weil sie im Windows on the World, dem Restaurant oben im World Trade Center, zum Frühstücken verabredet war. Sie plante eine Feier für ihren Ehemann, der Partner in seiner Kanzlei geworden war. Der Bankettmanager half ihr, ein Menü zusammenzustellen, die Weine auszusuchen und die Sitzordnung festzulegen.«
»Und Mike wusste, dass sie dort war?«
»Deshalb hatte ihn seine Mutter ja angerufen. Courtneys Mama rief Mrs. Chapman an und flehte sie an, Mike hinzuschicken, um Courtney zu suchen und sie in Sicherheit zu bringen.«
»Denkst du, dass er deshalb dort war?«
»Es hätten ihn keine zehn Elefanten davon abhalten können. Er ging nicht wegen ihr, aber er war wild entschlossen, sie zu retten, da ihm seine Mutter diese Mission aufgetragen hatte.«
»Das ist ein weiterer Unterschied zwischen Typen wie ihm und Leuten wie dir und mir. Irgendein Scheißkerl, der mich vor Jahren hat sitzen lassen? Ich hätte keinen barmherzigen Knochen im Leib.«
»Es spielte keine Rolle. Sie hatte keine Chance, ebenso wenig wie alle anderen, die dort oben waren.«
»Mike hat dir das alles erzählt?«
»Er muss drei Stunden lang geredet haben.«
»Über Courtney?«
»Sicher. Darüber, dass er sich immer so unzulänglich gefühlt hat, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Dass er außer
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