Die Knochenleserin
glauben, ich hätte schon wieder versagt.«
»Aber du hast nicht versagt. Laura Ann ist doch außer Gefahr.«
»Stimmt, sie ist außer Gefahr.« Sie öffnete die Augen. Sie musste sich das einzig wirklich Positive in Erinnerung rufen. Nein, es gab noch etwas. Kistle würde nie wieder ein Kind töten können. »Wir sollten uns um Megan kümmern.«
»Hat sie deine Schulter verbunden?«
»Nein, als ich zurück zum Boot ging, um deine Waffe zu holen, saß sie dort wie eine Statue. Sie hat auf nichts reagiert. Ich glaube nicht einmal, dass sie meine Anwesenheit überhaupt bemerkt hat. Ich habe mir schnell einen Druckverband angelegt und bin wieder losgegangen. Ich musste Kistle finden.« Sie schob Joe von sich weg und stand auf. »Ich muss zu ihr zurück. Ich möchte mich vergewissern, dass es ihr gut geht.«
Joe stand ebenfalls auf. »Dort in dem Boot war sie wahrscheinlich weniger in Gefahr als wir alle.«
Eve schüttelte den Kopf. Sie konnte sich noch gut an Megans Gesichtsausdruck erinnern, als sie losgegangen war, um sich an Kistles Fersen zu heften. »Ich wünschte, ich könnte das glauben.«
Eves erster Gedanke war, dass Kistle das Boot gefunden und Megan getötet hatte.
Megan saß nicht mehr aufrecht, sondern lag zusammengekauert neben dem Sitz.
»Keinerlei Anzeichen einer Wunde. Aber sie ist bewusstlos.« Eve überprüfte Megans Puls. »Sie ist eiskalt, und ihr Pulsschlag ist flach.«
»Schock.« Joe sprang ins Boot. »Wir müssen sie möglichst schnell zur Anlegestelle zurückbringen. War sie schon mal in diesem Zustand?«
»Nach dem Erlebnis mit Bobby Joe?« Eve schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Das ist …« Sie wusste nicht, was es war. Aber Megans komatöser Zustand machte ihr Angst. »Sie hat immer wieder gesagt, es wären zu viele. Ich habe gesehen, wie sehr sie gelitten hat. Aber ich habe trotzdem darauf bestanden, dass sie uns zu der Insel begleitet.«
»Hör auf, dir Schuldgefühle einzureden«, sagte Joe schroff. »Sie ist mitgekommen, weil sie es für richtig hielt. Sie ist eine starke Frau, und sie würde sich von dir zu nichts nötigen lassen. Was geschehen ist, ist geschehen, und jetzt können wir nur noch versuchen, den Schaden zu begrenzen. Zumindest hat sie keine Kugel abbekommen – im Gegensatz zu dir.«
»Das ist ein schwacher Trost«, entgegnete Eve erschöpft. »Es war nicht ihr Krieg. Und dennoch sieht sie elender aus, als ich mich fühle. Wir haben nicht einmal etwas zu trinken oder eine Decke, mit der wir sie wärmen könnten, damit sie nicht auskühlt bei ihrem Schock.«
»Bis zur Anlegestelle sind es nur zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten. Sobald wir unterwegs sind, müssen wir Phillip Blair anrufen, damit er einen Krankenwagen dorthin bestellt.« Er stieß das Boot ab. »Kannst du das Boot lenken?«
Sie nickte. »Es ist nur ein Kratzer.«
»Dann lass uns die Plätze tauschen. Ich werde sie halten und mit meinem Körper wärmen.« Er zog sein Hemd aus und drückte Megan an sich. »Du sagst doch immer, ich wäre ein Backofen.«
»Ja, das stimmt allerdings.« Eve ließ den Motor an. »Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass du ihr helfen würdest.«
»Dann hast du dich eben geirrt. Ich weiß nicht, was zum Teufel heute Nacht mit ihr passiert ist, aber ich weiß, dass sie mitgekommen ist und dass sie es für dich getan hat und nicht für sich selbst. Ich möchte nicht, dass sie sich davonmacht und der Alptraum für uns alle damit noch schlimmer wird.«
Sich davonmachen. Megan würde bestimmt nicht sterben wegen des Grauens, das sie in dieser Nacht erlebt hatte. Aber was wusste Eve schon über das Trauma, das die Frau erlitten hatte? Zweifellos ging es Megan Blair extrem schlecht, und Menschen konnten am Schock sterben.
Sie schaute zurück zu der Insel, wo all diese Kinder den Tod gefunden hatten. Hatte Kistle erneut gelogen? War Bonnie doch eines der Kinder, die dort begraben lagen? Eine der Stimmen, die Megan so zugesetzt hatten, dass sie zusammengebrochen und bewusstlos geworden war? Sie wusste es nicht, aber sie wusste, dass Megan mehr als Körperwärme und die medizinische Versorgung brauchte, die an der Anlegestelle auf sie wartete.
Ich weiß nicht, ob du dort bist, Bonnie. Aber wenn du auf der Insel bist, dann weißt du, dass Megan versucht hat, dir zu helfen. Oder vielleicht bist du ja gar nicht da, aber die anderen halten Megan noch fest. Auf der Insel war es furchtbar, alle haben gelitten, sodass dir vielleicht gar nicht klar ist, dass
Weitere Kostenlose Bücher