Die Knochenleserin
habe.«
»Das haben Sie ihr doch nicht angetan.«
»Doch, das habe ich. Ich habe miterlebt, wie es ihr bei Bobby Joe ergangen ist, und habe trotzdem insistiert. Ich habe ihr diesen Höllentrip zugemutet. Natürlich konnte ich nicht ahnen, dass sie nicht nur mit einem Tod konfrontiert sein würde, sondern auch noch mit all den anderen.« Ihre Stimme zitterte. »Aber, so wahr mir Gott helfe, selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es wahrscheinlich trotzdem getan. Bin ich wirklich so rücksichtslos?«
»Getrieben, besessen, verzweifelt«, sagte Montalvo beruhigend. »Und, ja, rücksichtslos. Das gehört zusammen. Andererseits sind Sie auch sehr großherzig und manchmal ganz wunderbar.«
»Blödsinn«.
Er lächelte. »Nun gehen Sie schon und wachen Sie an Megans Bett. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Aber irgendwann werden wir reden müssen, Eve.«
»Nein, das müssen wir nicht. Ich will nicht –« Sie unterbrach sich, als sie ihn ansah. Er war immer noch verdreckt und zerkratzt, und sie musste daran denken, welche Strapazen er heute Nacht für sie und Laura Ann auf sich genommen hatte … und für Bonnie. Sie nickte langsam, dann machte sie sich auf den Weg zu Megans Krankenzimmer. »Wir werden eine Gelegenheit finden.«
Megans Gesicht war bleich, und sie wirkte sehr zerbrechlich in dem weißen Krankenhausbett. Sie war an Infusionsschläuche angeschlossen.
Phillip Blair saß auf einem Besucherstuhl neben ihrem Bett.
»Wie geht es ihr?«, fragte Eve.
Phillip zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, die Ärzte wissen es auch nicht. Wir können nur abwarten. Und Sie? Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte. »Allerdings wundere ich mich, dass Sie fragen. Ich weiß, dass Sie nicht gut auf mich zu sprechen sind.« Sie verzog das Gesicht. »Und wer könnte es Ihnen verübeln? Ich jedenfalls nicht.«
»Und es wird noch lange dauern, bis ich Ihnen gegenüber etwas anderes als Groll werde empfinden können. Megan ist meine Nichte. Wir leben zusammen, seit ihre Mutter gestorben ist. Da war Megan fünfzehn.« Er musterte sie kühl. »Was meine Familie betrifft, bin ich sehr fürsorglich.«
»Deshalb habe ich auch großen Respekt vor Ihnen. Aber jetzt im Moment brauchen Sie Megan nicht vor mir zu schützen. Ich möchte nur bei ihr bleiben, bis sie aufwacht.«
»Warum?«
»Weil ich seit langem keine Frau mehr kennengelernt habe, die ich so sehr mag. Und weil ich ihr Schmerzen bereitet habe. Und weil ich mir fürchterliche Sorgen um sie mache. Sind das ausreichende Gründe?«
Eine Zeitlang sagte er nichts. »Vielleicht.« Er deutete mit dem Kopf auf den freien Besucherstuhl. »Nehmen Sie Platz.«
Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. »Danke.«
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Ich habe tiefere Beweggründe. Ich werde Megan beruhigen müssen, falls und wenn sie aufwacht. Ich brauche Antworten.«
»Antworten?«, wiederholte Eve. »Wovon reden Sie?«
»Sie war vermutlich sehr aufgewühlt, bevor sie zusammengebrochen ist.«
»Natürlich. Es war schrecklich für sie.«
»Und hat sie irgendjemanden von Ihnen berührt?«
Eve versuchte sich zu erinnern. »Ich habe ihr einmal die Hand gehalten. Nur ganz kurz, dann hat sie sie weggezogen.«
Phillip fluchte leise. »Verdammt. Ich wusste, dass es passieren würde. Sonst noch jemand?«
Sie schüttelte den Kopf. »Joe hat sie auf dem Weg von der Insel in den Armen gehalten, um sie zu wärmen.«
Er runzelte die Stirn. »Ich denke, das wird in Ordnung sein. Kein emotionaler Kontakt.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon zum Teufel Sie reden.«
Er funkelte sie wütend an. »Sie würden sich über nichts den Kopf zerbrechen müssen, wenn Sie Megan nicht dazu überredet hätten, mit in diesen Sumpf zu kommen.«
»Hören Sie, sie ist mitgekommen, und es ist vorbei. Ich kann nichts mehr daran ändern. Jetzt sagen Sie mir, warum es Sie so nervös macht, dass ich sie berührt habe.«
Er antwortete nicht.
»Phillip, ich bin erschöpft, ich mache mir Sorgen, meine Nerven liegen blank, und ich habe nicht vor, mir so etwas anzuhören und es dabei bewenden zu lassen. Megans merkwürdige Angst vor Berührungen fiel mir seit unserer ersten Begegnung immer wieder auf. Ich habe ihr heute Nacht schon genug Schmerz zugefügt. Ich möchte es wissen, wenn ich ihr darüber hinaus noch etwas angetan habe.«
Er schaute zu Megan hinüber. »Sie ist die Einzige, die das Recht hat, darüber zu reden.«
»Sagen Sie es mir, verdammt noch mal.«
Er lehnte sich
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