Die Knochenleserin
wehe, Sie schießen daneben.«
»Keine Sorge.« Montalvo hatte alle Hände voll zu tun, das Boot vorm Umkippen zu bewahren, als der Alligator erneut angriff.
Joe hielt die Machete bereit, während er sich dem Alligator näherte. Jetzt gleich war es so weit.
Ja!
Der Alligator drehte ab und glitt vom Boot weg.
Joe wühlte das Wasser auf, um das Tier zu provozieren.
»Komm schon«, flüsterte er. »Komm und hol mich, du Mistvieh.«
Der Alligator schwamm in seine Richtung.
»Ich habe ihn im Visier«, rief Montalvo. »Machen Sie, dass Sie wegkommen.«
»Noch drei Meter«, rief Joe zurück. »Ich will nicht riskieren, dass er nach mir taucht.«
Ein Meter.
Die vorstehenden Augen schimmerten silbrig.
Zwei.
In dem aufgerissen Maul leuchteten die Zähne.
Drei!
»Jetzt!«
Joe tauchte ab, als der Alligator ihn fast erreicht hatte, und schwamm mit ein paar schnellen Zügen unter seinen Bauch.
Er hatte Montalvos Schuss nicht gehört, aber er würde nicht warten, um herauszufinden, ob er den Alligator getroffen hatte. Wenn nicht, musste Joe um sein Leben schwimmen.
Erst kurz vor dem Ufer tauchte er auf.
Montalvos Boot war nur wenige Meter entfernt. »Am besten Sie kommen an Bord. Unser verstorbener Freund war nicht der Einzige seiner Art in diesen Gewässern.«
»Haben Sie ihn erwischt?«
»Ja.« Montalvo reichte Joe eine Hand, um ihn ins Wasser zu ziehen. »Vertrauen Sie mir nicht? Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich schießen würde.«
»Falls Sie es wollten.«
»Ich wollte«, erwiderte Montalvo ruhig. »Sie haben buchstäblich Ihr Blut für mich gegeben.« Er steuerte das Boot zum Ufer. »Auch wenn ich mich frage, warum Sie es getan haben.«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Joe knapp. »Wir müssen Miguel und Laura Ann abholen und zusehen, dass wir hier wegkommen. Kistle kann uns von jeder erhöhten Stelle auf dem nördlichen Teil der Insel aufs Korn nehmen. Ich war ihm auf den Fersen, als ich plötzlich diesen verfluchten Alligator gesehen habe. Kistle ist die Vorstellung garantiert auch nicht entgangen. Er hatte Laura Ann als Köder auf dieser Insel hier ausgesetzt, nur dass sie ihm den Spaß verdorben hat. Aber jetzt hat er sein Ziel erreicht. Wir geben optimale Zielscheiben ab.«
»Dann nichts wie weg hier. Haben Sie Eve gesehen?«
»Nein. Und Kistle ist unberechenbar. Ich muss zurück auf Kistles Insel, bevor er es sich anders überlegt und sich an ihre Fersen heftet.«
Als der Mond wieder hinter den Wolken auftauchte, war es so hell, dass Kistle nicht einmal mehr die Infrarotbrille brauchte, um zu zielen.
Wie herrlich erregend das war. Es war nicht zu fassen. Alles kam genau so, wie er es ursprünglich geplant hatte. Er würde sie alle erledigen! Das Kind und Miguel kauerten gemeinsam gut sichtbar auf der Insel, und Quinn und Montalvo saßen ganz in der Nähe im Boot. Er konnte sich in aller Ruhe überlegen, wen er zuerst abknallte. Endlich hatte er wieder Macht über Leben und Tod, und er konnte das berauschende Gefühl voll auskosten.
Mal sehen …
Die Männer würde er natürlich töten müssen. Alles andere war zu gefährlich. Aber bei dem Mädchen reichte eine Verletzung, dann konnte er später noch ein bisschen mit der Kleinen spielen. Der Gedanke, dass es ihm nicht gelungen war, den Willen dieses kleinen Miststücks zu brechen, war unerträglich. Als Erstes musste er auf sie schießen, sonst würden sie sie sofort in Sicherheit bringen. Ja, so würde er es machen …
Ein Rascheln hinter ihm.
Als er herumwirbelte, trat Eve Duncan zwischen den Bäumen hervor. Erleichtert atmete er auf. Keine ernste Gefahr. Sie wankte leicht, und auf ihrem Anorak hatte sich ein Blutfleck ausgebreitet. Sie war verwundet, und er hatte ihr die Waffe abgenommen. Sie war nichts weiter als eine verzweifelte Frau, die versuchte, die Menschen zu retten, die ihr wichtig waren. Wenn sie ihm beim Töten zuschaute, würde das dem Erlebnis noch eine besondere Note verleihen. »Ah, Sie kommen gerade rechtzeitig. Aber ich hab’s leider ein bisschen eilig und kann mich im Moment nicht mit Ihnen unterhalten.« Er wedelte mit dem Gewehr. »Kommen Sie her. Ich will Sie nicht hinter mir haben, wo ich nicht sehen kann, ob Sie irgendwas tun, was mich nervös macht. Jeder Schuss muss sitzen.«
»Schuss?« Eve erstarrte, als sie seinem Blick über das Wasser zur Insel folgte. »O mein Gott.«
Er lachte in sich hinein. »Genauso fühle ich mich. Wie Gott, der Blitze schleudert. Ich hatte schon befürchtet, dass
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