Die Knochenleserin
empfinden wie Sie. Nein, ich würde nicht genauso empfinden. Ich hatte nie ein Kind, deshalb kann ich Ihre Verzweiflung nicht ermessen. Aber ich denke, ich kann mitfühlen.« Sie wechselte das Thema. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Laura Ann noch schnell einen Besuch abstatten, bevor wir gehen? Ich würde gern mit eigenen Augen sehen, dass sie okay ist.«
»Das kann ich gut verstehen. Sie sind ihretwegen durch die Hölle gegangen und haben sie nicht einmal kennengelernt.«
»Erzählen Sie ihr bitte nicht, auf welche Weise ich geholfen habe. Sie würde es sowieso nicht verstehen.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Aber wir verstehen es ja ebenso wenig, nicht wahr? In welchem Zimmer liegt sie?«
»Im Erdgeschoss, Zimmer 28 B. Ich war bei ihr, nachdem man mich aus der Notaufnahme entlassen hatte.« Aus Neugier fügte sie hinzu: »Wir sind in einem Krankenhaus, und hier gibt es reichlich emotionalen Stress. Ich hätte gedacht, dass Sie an so einem Ort von einem ganzen Stimmenchor überwältigt würden.«
»Ich habe gelernt, sie auszublenden. Nur wenn ich mich öffne, kann es passieren, dass sie mich überwältigen.«
Als sie sich Laura Anns Krankenzimmer näherten, trat Nina Simmons gerade aus der Tür. Sie lächelte und wirkte zehn Jahre jünger, als Eve sie bei ihrer ersten Begegnung erlebt hatte.
»Ich wollte Sie auch gerade aufsuchen.« Laura Anns Mutter umarmte Eve herzlich. »Sie haben mir meine Kleine zurückgegeben. Ich stehe in Ihrer Schuld. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie mich es wissen.«
»Sie schulden mir gar nichts.«
»Doch, natürlich.« Sie trat einen Schritt zurück. »Es wird sich schon noch eine Gelegenheit bieten. Aber jetzt muss ich die Entlassungspapiere für Laura Ann holen, damit wir nach Hause fahren können.« Sie eilte den Korridor hinunter.
»Allein ihr Gesicht zu sehen, das war die ganze Sache wert.« Megans Blick folgte Nina Simmons, bis sie um die Ecke bog.
»Ja, mir geht es genauso«, sagte Eve, als sie die Tür zu Laura Anns Zimmer öffnete.
Laura Ann war schon angezogen und saß auf der Bettkante, als sie eintraten. »Hallo Eve!« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Ich kann wieder nach Hause gehen. Mama ist unten und unterschreibt alle Papiere, damit sie mich hier rauslassen.«
»Und ich durfte hierbleiben, um mich zu verabschieden.« Miguel trat mit einem rosafarbenen Blumenstrauß in einer Glasvase aus dem Badezimmer. »Ich habe ein bisschen Wasser in die Vase gefüllt, damit sie die Blumen mit nach Hause nehmen kann.«
»Ein sehr hübscher Strauß«, sagte Eve. »Bestimmt wird dein Zimmer zu Hause bald voller Blumen sein, Laura Ann, wenn sich erst herumspricht, dass du außer Gefahr bist.«
»Aber kein Strauß wird so schön sein wie dieser«, erwiderte Miguel. »Den habe ich ihr mitgebracht.« Er reichte dem Mädchen die Vase. »Habe ich nicht schöne Blumen für dich ausgesucht?«
»Gelbe Blumen gefallen mir besser«, sagte Laura Ann. »Aber die sind okay.«
»Nennt man so was Dankbarkeit?«, fragte Miguel. »Ich schlage mich für sie mit Alligatoren herum, und sie verschmäht mich. Ich möchte lieber nicht wissen, wie du bist, wenn du erst mal erwachsen bist.«
»Was heißt verschmähen?«
»Ablehnen. Wegschicken.«
»Ich hab dich nicht verschmäht.« Laura Ann runzelte die Stirn. »Ich mag gelbe Blumen einfach lieber – außerdem hast du gesagt, du würdest nicht weggehen. Als wir in dem Baum gesessen haben, hast du gesagt, du würdest mich nicht allein lassen.«
»Hab ich ja auch nicht.«
»Und jetzt lässt du mich auch nicht allein. Ich lass dich einfach nicht mehr weg.«
Eve mischte sich hastig ein. »Ich möchte dich gern einer Freundin vorstellen, Laura Ann. Das ist Megan Blair. Sie war mit auf der Insel und hat dabei geholfen, dich zu suchen.«
Megan lächelte. »Hallo, schön dich kennenzulernen. Du bist bestimmt froh, dass du wieder nach Hause kommst.«
»Ja.« Laura Ann musterte Miguel immer noch stirnrunzelnd. »Du hast es mir versprochen.«
»Du musst wieder zur Schule, und du hast deine Freundinnen. Ich werde dir bestimmt nicht fehlen«, sagte Miguel freundlich. »Aber solltest du noch einmal auf einen hungrigen Alligator treffen, verspreche ich dir, dass ich da sein werde.«
»Ich möchte, dass du – mein Daddy hat mir auch versprochen, dass er immer da ist. Aber seit er Mama und mich verlassen hat, ist er noch kein einziges Mal gekommen.« Sie setzte einen entschlossenen Gesichtsausdruck auf. »Du musst
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