Die Knochenleserin
enttäuscht habe. Glaubst du, ich habe Angst vor ihm?«
Miguel schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber ich verstehe es nicht.«
Montalvo trieb die Heringe in den Boden, bevor er antwortete. »Ich hätte mich an seiner Stelle genauso verhalten. Es ist schwer, einen Mann zu verdammen, der das tut.« Montalvo musste daran denken, dass er zu Eve gesagt hatte, dass sie wie Spiegel füreinander seien. Merkwürdig. Jetzt sah er sich in Joe Quinn gespiegelt.
Er schob den Gedanken beiseite. »Sobald das Zelt steht, solltest du etwas essen und anschließend ein paar Stunden schlafen. Ich möchte, dass du bei Tagesanbruch bei den Okefenokee-Sümpfen bist.«
Kistles Päckchen wurde am folgenden Tag am späten Nachmittag von UPS geliefert. Es hatte die Größe einer Hemdschachtel und war in braunes Papier gewickelt.
Joe brachte es auf die Veranda. »Es ist sehr leicht. Möchtest du, dass ich es aufmache?«
»Nein, das mach ich selbst.« Eve starrte das Päckchen einen Augenblick lang an, bevor sie es entgegennahm. Es würde schon nicht beißen. Oder vielleicht doch? Sie würde sich nicht wundern, wenn Kistle ihr eine Vogelspinne geschickt hätte.
Wie auch immer, sie musste es öffnen.
Sie riss das braune Papier auf und öffnete die weiße Schachtel.
Ein blaues Kinderhaarband.
Ihr wurde übel.
»Ist es von Bonnie?«, fragte Joe.
Das war ihr erster Gedanke gewesen. Aber Eve hatte Bonnie nur selten die Haare zusammengebunden, weil sie zu viele Locken gehabt hatte. Und wenn, dann mit gelben Bändern. Bonnie hatte Gelb geliebt, weil sie fand, es sei wie die Sonne. »Nein, das ist nicht von Bonnie.« Behutsam berührte sie das Band. Bei näherer Betrachtung entdeckte sie braune Flecken darauf. Schmutz?
Oder Blut?
»Hier ist noch ein Briefumschlag.« Joe nahm ihn aus der Schachtel und öffnete ihn. »Zwei Fotos.« Er gab ihr das erste, das irgendwo draußen in der Natur aufgenommen worden war. Eine Kiefer und gleich daneben ein riesiger Felsen. Dann gab er ihr das andere Foto.
»O Gott.«
Es war das Foto eines kleinen Mädchens, dessen glänzend braunes Haar mit einem blauen Band zusammengebunden war.
Eves Blick schoss zu Joe. »Er macht immer weiter. Es ist schon wieder wie im Clayborne Forest. Er tut es immer noch.«
»Langsam. Das wissen wir noch nicht. Er hat uns kein Körperteil geschickt, sondern ein Band.«
»Auf dem sich Blut befindet. Dieser Fleck ist garantiert Blut.«
Joe untersuchte den Umschlag. »Hier ist auch noch ein Stück Papier.« Er zog es heraus und warf einen Blick darauf, bevor er es Eve reichte. »Offensichtlich will er es genüsslich auskosten.«
Sieh dir heute die Abendnachrichten an, Eve. Sie heißt Laura Ann.
»Die Abendnachrichten«, wiederholte sie. »Wie viel Uhr ist es?«
»Halb vier. Kanal zwei bringt um fünf Nachrichten.«
Sie betrachtete das andere Foto, auf dem die Kiefer und der Felsen zu sehen waren. »Und was zum Teufel soll das sein?«
»Ein Hinweis?«
»Wo er Bonnie begraben hat?« Sie erschauderte. »Oder wo er die kleine Laura Ann vergraben hat?«
»Abwarten.« Joe ging zur Küche. »In der Zwischenzeit setze ich eine Kanne Kaffee auf. Du bist so bleich wie ein Grabstein, du kannst einen Kaffee gebrauchen. Und verdammt, ich auch.«
Bleich wie ein Grabstein.
Nur dass Bonnie nie einen Grabstein bekommen hatte. Sie war verloren, und dieses kleine Mädchen vielleicht auch.
Sieh dir die Abendnachrichten an. Fünf Uhr. Bis dahin kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.
11
D ie neunjährige Laura Ann Simmons war die Hauptmeldung in den Nachrichten. Sie war am Tag zuvor nicht nach Hause gekommen, und ihre Mutter, Nina Simmons, war anfangs davon ausgegangen, dass ihr Exmann sie von der Schule abgeholt hatte, was dieser jedoch verneinte, als sie ihn endlich telefonisch erreichte. Laura Ann war immer noch verschwunden, sodass die Polizei mittlerweile von einem Gewaltverbrechen ausging.
»Gewaltverbrechen«, wiederholte Eve. »Niemand ist gewalttätiger als Kistle.« Ihr wurde übel, als sie das Foto des Mädchens auf dem Bildschirm sah. Für ihr Alter war Laura Ann Simmons klein; sie hatte langes dunkles Haar, das von einem Band zusammengehalten wurde. Sie hatte große, leuchtend blaue Augen und ein fröhliches, herzerwärmendes Lächeln. »Kannst du vielleicht auf dem Polizeirevier noch mehr herausbekommen, Joe?«
»Ich kann’s versuchen.« Joe nahm sein Handy aus der Tasche. »Aber es sieht so aus, als würden die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen. Die
Weitere Kostenlose Bücher