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Die Knochenleserin

Die Knochenleserin

Titel: Die Knochenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
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von beiden sollte sie mitnehmen? Das Gewehr. Es hatte ein Nachtsichtfernrohr, und sie würde sich sowohl im Schutz der Bäume als auch außerhalb fortbewegen müssen. Sie nahm das Gewehr und sagte zu Megan: »Ich weiß, dass Sie gesagt haben, Sie würden nicht an Land gehen, aber ich würde mich besser fühlen, wenn Sie sich im Gebüsch versteckten, bis ich zurückkomme. Es gefällt mir nicht, Sie hier allein zurückzulassen.«
    »Nicht allein.« Megans Stimme klang schrill. »Nicht allein. Ergreifen Sie ihn. Töten Sie ihn. Lassen Sie nicht zu, dass … er es wieder tut.«
    Ein eiskalter Schauer lief Eve über den Rücken. Megan konnte kaum sprechen, und ihre Körpersprache drückte fürchterliche Qualen aus. Was hatte sie Megan nur angetan, indem sie sie hierhergebracht hatte?
    Und was würde Kistle ihnen allen antun?
    Sie musste ihr noch eine Frage stellen. »Wissen Sie, wo all diese Kinder vergraben sind?«
    »Im Norden.«
    »Ich komme zurück, sobald ich kann.«
    Megan antwortete nicht, als Eve im Dickicht verschwand.
    In welche Richtung sollte sie gehen? Sie war keine Jägerin.
    Kommen Sie zu mir. Ich werde Sie finden, hatte Kistle ihr gesagt.
    Und Kistle war ein Jäger. Ihm würde es keine Probleme bereiten, ihre Spur aufzunehmen und sie zu finden.
    Sie musste jetzt nur noch eine Stelle finden, wo sie auf ihn warten konnte.
    Ihr Blick wanderte zum nördlichen Teil der Insel. Ja, und dort werde ich auf dich warten. Dort werden wir alle auf dich warten, Kistle.
     
    Miguel stellte den Motor ab. »Dort ist es.«
    Montalvo nickte. Das war eindeutig die Insel auf dem Foto. Und zu ihrer Linken befanden sich die Baumgruppe und das Gebüsch, hinter denen sich nach Eves Worten Kistles Insel verbarg.
    »Suchen wir das Kind?«, fragte Miguel.
    »Du suchst das Kind.« Montalvo zog seine Stiefel und das Hemd aus, verstaute sein Handy im wasserdichten Gürtel und glitt ins Wasser. »Ich versuche Kistle zu erwischen.«
     
    Keine Gräber.
    Als Eve das nördliche Ende der Insel erreicht hatte, verließ sie das Gebüsch und blieb stehen. Vor ihr lag eine flache moosbewachsene Lichtung, die beinahe gepflegt wirkte und gar nicht zu dem wilden Chaos der Sümpfe passte.
    Keine Gräber.
    Unsinnigerweise empfand sie Erleichterung. Vielleicht hatte Megan sich ja geirrt. Vielleicht gab es ja nur ein Grab, und das befand sich auf einem anderen Teil der Insel. Was wusste Eve schon wirklich über Megans Fähigkeit oder Unfähigkeit? Aber all das hier entzog sich sowieso jeder Vernunft und jedem Verstehen. Sie hatte das alles nur akzeptiert, weil sie Antworten wollte und sie Am Ende der Lichtung lag eine große Holzkiste auf dem Boden. Sie war gut sichtbar auf einem Stapel aufgeschichteter Äste platziert.
    Sodass Eve sie sehen würde. Und wissen würde, dass er wollte, dass sie sie genauer in Augenschein nahm und sie berührte.
    Panische Angst erfasste sie. Sie wollte nicht in die Nähe der Kiste gehen.
    Es spielte keine Rolle, was sie wollte. Die Kiste zog sie an wie ein Magnet. Sie musste wissen, was sich darin befand; sie musste den Deckel anheben.
    Das Moos war feucht und elastisch unter ihren Füßen, als sie die Lichtung langsam überquerte.
    Vor der Kiste ließ sie sich auf die Knie fallen. Es war eine alte Truhe mit Messingbeschlägen, und das Holz war fleckig vom häufigen Transportieren. Warum hatte Kistle sie so häufig benutzt?
    O Gott, sie fürchtete sich vor der Antwort.
    Sie fasste sich ein Herz und hob den Deckel an.
    Haarbänder, Spielsachen, seidige, von Gummibändern zusammengehaltene Haarsträhnen, Fingernägel. Die Kiste war bis zum Rand gefüllt. An einigen Stücken befanden sich Zettel mit Namen, an anderen nicht. Eve nahm eine Strähne schwarzer Locken in die Hand und betrachtete benommen das sauber beschriftete Etikett. Letitia.
    Ihr wurde übel. Sie ließ die Haarsträhne wieder in die Kiste fallen. Sie wollte nicht die grausigen Überreste dieser armen Kinder berühren.
    Sie würde es dennoch tun. Weil sie wissen musste, ob vielleicht eine dieser Haarsträhnen rot und gelockt war und das Etikett Bonnie trug.
    »Ah, Sie haben sie gefunden. Sie sind ja wirklich sehr schnell. Ich hätte eher erwartet, dass Sie erst nach Stunden über meine Trophäenkiste stolpern würden. Ich bin sehr stolz darauf. Sie ist einzigartig.«
    Als sie den Kopf hob, sah sie Kistle in einigen Metern Entfernung stehen, ein Gewehr lässig im Arm. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dasselbe grau-braune Haar, dieselben Gesichtszüge wie auf dem

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