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Die Knochenleserin

Die Knochenleserin

Titel: Die Knochenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
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wenn du jetzt an etwas denken würdest, was dich ein bisschen ablenkt.«
    »An was denn?«
    »Nun ja, mit Märchen kenne ich mich nicht aus. Mein Vater hat auch nicht besonders viel davon gehalten.« Es sei denn, sie waren in seinen Kokain-Halluzinationen aufgetaucht. »Aber nachdem ich zu Montalvo gekommen war, habe ich Bücher aus seiner Bibliothek gelesen, und darunter war auch eins über Tarzan und die Affen.« Das müsste man einem Kind eigentlich erzählen können. Jedenfalls war es die einzige jugendfreie Geschichte, die er kannte. »Tarzan hatte sich auch im Dschungel verirrt. Genau wie ich. Dann hat dieser fette, hässliche Affe ihn gefunden und mit nach Hause genommen.«
    »Wie Montalvo?«
    Miguel musste grinsen bei dem Gedanken. »Genau wie Montalvo.«
     
    Kein Quinn.
    Kein Kistle.
    Lautlos bewegte sich Montalvo durch das Unterholz. Er spürte die vertraute Erregung und Anspannung, die sich immer einstellte, wenn er jemanden jagte. Den östlichen Teil der Insel hatte er bereits erkundet und arbeitete sich jetzt in Richtung Westen vor. Sehr viel Land konnte nicht mehr zu durchforsten sein. Die Insel war klein, kein Vergleich zu dem riesigen Areal des Clayborne Forest.
    In den allgegenwärtigen Modergeruch des Sumpfs mischte sich der süßliche Duft der schwimmenden Wasserlilien. Keine Spur von Schweiß oder Seife, Salz oder Moschus in der Luft auszumachen. Damit hatte er allerdings auch nicht gerechnet. Quinn und Kistle waren beide erfahren genug, um sich nicht durch ihre Duftnote zu verraten.
    Aber Eve war keine Soldatin. Er hatte sie im kolumbianischen Dschungel unter die Dusche geschickt, damit sie diesen Geruch nach Shampoo und Seife loswurde, der an ihr hing.
    Eve.
    Sofort verscheuchte er den Gedanken an sie. Bloß jetzt nicht an Eve denken. Wenn es ihm gelang, Kistle zu erwischen, dann war Eve nicht in Gefahr. Es war seine einzige Möglichkeit Das Handy in seiner Tasche vibrierte.
    Mist. Nicht jetzt.
    Er warf einen Blick auf das Display. Miguel.
    Er drückte den Knopf. »Was gibt’s?«, flüsterte er.
    »Zwei Alligatoren, ein Baum, ich und Laura Ann.« Das Telefon krächzte. »Nein, ich glaube, einem Alligator ist es zu langweilig geworden, und er ist weggeschwommen. Aber ich glaube, wir könnten ein wenig Hilfe gebrauchen. Der Ast, auf dem wir hocken, wirkt ein bisschen schwach.«
    Verflucht. »Wo?«
    »Vor der Nordseite der Insel.«
    »Wie schlimm ist es?«
    »Laura Ann sitzt direkt neben mir.«
    »Und du willst sie nicht ängstigen.«
    »Richtig. Obwohl sie bewundernswert tapfer ist. Es tut mir leid, Ihnen das Vergnügen zu verderben, aber ich denke wirklich, Sie sollten uns hier von dem Baum pflücken, bevor Sie zurückfahren nach –« Das Handy krächzte erneut, dann war die Verbindung unterbrochen.
    Ihm blieb keine Wahl. Er verstaute das Handy in der Tasche. Wenn Miguel ein SOS für notwendig hielt, dann musste er sich in höchster Gefahr befinden.
    Er machte sich im Laufschritt auf den Weg in Richtung Norden.
     
    Der Ast knackte und senkte sich weiter.
    »Ups.« Miguel versuchte das Mädchen näher an den Baumstamm zu schieben. Aber sie hockten zu dicht an der Bruchstelle. Ob es ihm gelingen würde, den nächsthöheren Ast zu erreichen? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht doch.
    Er musste es versuchen.
    »Laura Ann, wir klettern ein bisschen höher.« Er nahm den Ast zwischen die Beine und rutschte Stückchen für Stückchen vorwärts. »Hör zu, falls wir ins Wasser fallen, schwimmst du so schnell du kannst zum Ufer. Warte nicht auf mich. Sieh dich nicht um. Schwimm einfach weiter. Montalvo wird bald hier sein.«
    »Nein, ich bleibe bei dir.« Ihre Arme schlossen sich enger um seinen Hals. »Die fressen dich.«
    »Nein, das tun sie nicht. Ich bin praktisch ein Superman. Du hast doch gesehen, wie ich’s diesem einen Alligator gezeigt habe. Alligatoren haben nicht viel Familiensinn. Wenn es mir gelingt, einen zu verletzen, kommt der andere und greift ihn an.«
    »Meinst du, das klappt?«
    »Natürlich klappt das.« Der Ast splitterte, die hellen Holzfasern leuchteten in der Dunkelheit. Er würde nicht mehr lange halten. »Aber wir versuchen erst mal auf den Ast da zu kommen, bevor ich –«
    »Herrgott, Miguel. Was machst du da?«
    Miguel wurde fast schwindlig vor Erleichterung, als er Montalvo auf das Boot zuschwimmen sah, das er zurückgelassen hatte, um zu Laura Ann zu gelangen. »Ich bemühe mich, ein Held zu sein. Aber irgendwie klappt es nicht so richtig. Sie sollten möglichst schnell

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