Die Knopfmacherin
fühlte sich Melisandes Inneres an, als trüge sie einen riesigen Feldstein darinnen. Ihre Wangen brannten, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Was für Ungeheuerlichkeiten dieser Kerl da von sich gegeben hatte!
Auf einmal war es ihr, als könnte sie im Tuchmacherhaus nicht mehr atmen. Die Tuchmacherfrau ignorierend, die soeben aus ihrem Versteck trat, stürmte sie nach draußen und prallte beinahe mit einem der Totengräber zusammen, die gerade eine der Leichen auf einer Bahre nach draußen trugen. Die Hand, die unter dem groben Tuch hervorrutschte, war die ihrer Mutter. Melisande erstarrte kurz, dann lief sie weiter.
Auf der Bank neben dem Haus sank sie schließlich zusammen. Von drinnen drangen die Stimmen der Tuchmachergesellen heraus, doch Melisande hörte nicht zu. Sie bekam auch nicht mit, als die Männer das Haus verließen und der Karren losfuhr, auf dem die Leichname abgelegt waren. Das Bild der Hand ihrer Mutter hatte sich in ihren Blick eingebrannt, und sie wurde es auch nicht los, als der Tuchmacher ihr tröstend die Schulter tätschelte, um sich zu verabschieden.
6. Kapitel
Stunden später wanderte Melisande rastlos durchs Haus. Der Sonnenschein, der durch die geöffneten Fensterläden fiel, malte gelbe Flecken auf die Bodendielen. Straßenstaub wirbelte durch die halb geöffneten Fensterläden herein. Alles wirkte friedlich, nichts war von der vorherigen Unordnung geblieben.
Melisande wusste selbst nicht, wie sie es über sich gebracht hatte, das Haus aufzuräumen. Sie hatte nicht nur den Boden gewischt, sondern auch die heil gebliebenen Stühle wieder richtig hingestellt. Es war, als hätte jemand anders ihre Gliedmaßen geführt.
Obwohl von draußen Stimmen, Hufgetrappel und das Poltern von Fuhrwerken ertönten, kam ihr das Haus merkwürdig still vor. Selbst ihre eigenen Schritte schien die Stille zu verschlucken. Melisande betrat die Schlafkammer ihrer Eltern und setzte sich auf den Rand des unberührten Bettes. Ihre Brust fühlte sich wund an, ihr Hals schmerzte. Schauer rannen ihr über die Haut, so dass sie sich vorkam, als ginge sie mitten durch Schnee. Obwohl die Trauer sie beinahe umbrachte, konnte sie nicht mehr weinen.
Langsam zog sie den Knopf hervor und legte ihn auf das Bett. Das Blut hatte sie inzwischen abgewaschen. Als Kind hatte sie sich immer gewünscht, dass ihre liebsten Spielkameraden sprechen könnten. Diesen Wunsch hegte sie nun wieder, wenn auch nicht, weil sie von ihm schöne Geschichten hören wollte.
Ach, könntest du mir doch erzählen, an wessen Wams du einst genäht wurdest. Dann wüsste ich jetzt wenigstens, wohin ich gehen soll. Wo ich Alina suchen soll.
Aber der Knopf blieb stumm. Nachdem sie ihn eine Weile betrachtet hatte, verstaute sie ihn wieder in ihrem Rockbund und verließ die Kammer.
Draußen läutete die Glocke elf. Um diese Zeit hätte sie normalerweise mit dem Vater in der Werkstatt gesessen. Während sie beide an den Knöpfen gearbeitet hätten, hätten ihre Mutter und Alina für die Mittagsmahlzeit gesorgt. Hin und wieder wäre ein Kunde hereingekommen und hätte ihnen den Auftrag gegeben, Knöpfe für ihn anzufertigen.
Obwohl der Gang in die Werkstatt bittere Erinnerungen in ihr aufkeimen ließ, wusste Melisande keinen besseren Ort, an den sie gehen konnte.
In der Werkstatt war noch alles so, wie sie es am Abend zuvor verlassen hatten. Die Schemel standen ordentlich unter den Werkbänken, von denen der Holzstaub gefegt worden war. Melisande trat an die Bank des Vaters und strich liebevoll über das Werkzeug.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl für sie gewesen, zum ersten Mal selbst einen Knopf zu fertigen. Ihr Vater hatte sie dabei lächelnd beobachtet, so wie sie sonst ihm zusah. Ihre ersten Versuche waren alles andere als vollkommen gewesen, weshalb sie auch nicht verkauft wurden. Aber der Vater hatte sie aufbewahrt, damit Melisande später ihren Kindern zeigen konnte, wie sie einst mit dem Handwerk angefangen hatte.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Während sie eine Hand auf den Mund presste, verließ sie die Werkstatt und kehrte in ihre Kammer zurück. Hier hatte sich nichts verändert. Dieser Raum war der einzige gewesen, in dem die Soldaten nicht gewütet hatten. Alinas Rock hing noch immer über dem Schemel, auf der Fensterbank lag die Bürste, der schon etliche Zinken fehlten. Alles schien so, als würde ihre kleine Schwester jeden Augenblick zurückkehren und ihr wieder in den Ohren liegen, dass sie unbedingt heiraten
Weitere Kostenlose Bücher